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Streuselschnecke

Teil 1

Zusammenfassung

Im ersten Abschnitt der Erzählung »Streuselschnecke« von Julia Franck steht das allmähliche Kennenlernen der Ich-Erzählerin mit ihrem Vater im Vordergrund, der für die Leserinnen und Leser zunächst als unbekannter Mann in Erscheinung tritt.

Der Rahmen und die Ausgangslage für die Handlung wird in den ersten beiden Sätzen umrissen. Die Protagonistin ist zu Beginn der erzählten Zeit vierzehn Jahre alt und lebt bereits seit einem Jahr getrennt von ihrer Mutter und ihren Schwestern in Berlin, wo sie bei Freunden untergekommen ist. Die Gründe, warum sie so früh von zu Hause ausgezogen ist, bleiben unerwähnt. Sowohl die Ich-Erzählerin als auch der Mann werden nicht namentlich genannt. Weitere am Rande erwähnte Nebenfiguren, wie die Schwestern, die Mutter oder die Freunde der Protagonistin, tragen ebenfalls keine Namen.

Mit dem Anruf des Vaters setzt die Handlung der Geschichte in medias res ein. Eine aus der Perspektive des jungen Mädchens fremde männliche Stimme meldet sich am Telefon. Der Mann nennt dem Mädchen seinen Namen und Wohnort. An dieser Stelle dürfte dem Mädchen klar werden, dass es sich um ihren Vater handelt. Diese Erkenntnis bleibt jedoch durch die Ich-Erzählerin unkommentiert.

Der Vater lebt, genau wie seine Tochter, auch in Berlin und möchte sie nun gerne kennenlernen. Das Mädchen ist zunächst unsicher und reagiert zögerlich auf seine Frage. Es werden keine Angaben gemacht, wie lange sie sich mit ihrer Antwort zurückhält. Unterdessen macht sie sich Gedanken darüber, wie es wohl wäre, ihren Vater zu treffen. Als es dann schließlich soweit ist und sie sich miteinander verabreden, fühlt sie sich nicht recht wohl.

Bei ihrem ersten Kennenlernen trägt der Vater legere Kleidung in Form einer Hose und Jacke aus Jeansstoff. Das Mädchen wiederum schminkt sich. Er ergreift die Initiative und führt sie in das Café Richter am Hindemithplatz, das im Ortsteil Charlottenburg im Westen von Berlin liegt. Daraufhin gehen sie gemeinsam in ein nicht näher beschriebenes Kino und sehen sich einen Film des französischen Filmemachers Éric Rohmer an. An dieser Stelle kommentiert die Ich-Erzählerin ihren ersten Eindruck von dem Vater und erwähnt, dass er auf sie nicht unsympathisch, aber schüchtern wirkt.

Vermutlich bei einem weiteren Treffen sucht der Vater ein Restaurant aus, wo er die Tochter mit seinen Freunden bekannt macht. Dabei bemerkt die Ich-Erzählerin ein sonderbares Lächeln bei ihrem Vater, das sie als ironisch beschreibt. Sie teilt zwar mit, dass sie eine Ahnung habe, was das Lächeln bedeutet, lässt die Leserinnen und Leser aber nicht an diesem Wissen teilhaben.

In der darauffolgenden Zeit darf die Tochter ihren Vater mehrfach bei der Arbeit besuchen. Er arbeitet als Filmregisseur und Drehbuchautor. Die Ich-Erzählerin überlegt, ob er ihr Geld geben werde, traut sich aber auch nicht, ihn danach zu fragen. Der Vater gibt ihr von sich aus kein Geld. Damit ist die Tochter aus mehreren Gründen einverstanden. Zum einen ist sie der Meinung, dass es nicht richtig sei, ihren Vater deshalb zu fragen, da sie ihn kaum kennt. Zum anderen findet die Ich-Erzählerin, dass sie selbst in der Lage sei, für sich zu sorgen.

An dieser Stelle erfahren die Leserinnen und Leser auch etwas über das Leben der Protagonistin. Neben der Schule arbeitet die Ich-Erzählerin als Reinigungskraft und Kindermädchen, um das nötige Geld für ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Für die Zukunft plant sie, auch als Kellnerin zu arbeiten. Sie hat die Hoffnung, nach der Schule einen richtigen Beruf zu erlernen, der ihren Ansprüchen genügt.

Analyse

Der Einstieg in die Erzählung erfolgt für die Leserinnen und Leser »abrupt« (vgl. Kloppert 210) und in medias res: »Der Anruf kam, als ich vierzehn war.« (51) Durch die Verwendung des bestimmten Artikels (»der Anruf«) liegt die Perspektive beim erzählenden und bereits erwachsenen Ich. Da die Ich-Erzählerin in der Rückschau schon weiß, um welchen Anruf es sich handelt, verwendet sie in dieser Aussage den bestimmten Artikel und nicht den unbestimmten. Der zweite Teil des Satzes mit der temporalen Angabe (»als ich vierzehn war«) stellt dagegen eine neue Information dar. Die anschließende Beschreibung der Lebensumstände der Protagonistin führt diesen zeitlichen Rahmen der Geschichte noch weiter aus.

Bereits im zweiten Satz konfrontiert uns die Autorin mit den schwierigen familiären Verhältnissen der Protagonistin: »Ich wohnte seit einem Jahr nicht mehr bei meiner Mutter und meinen Schwestern, sondern bei Freunden in Berlin.« (51) An dieser Stelle erfahren die Leserinnen und Leser wichtige, wenn auch nur wenige Informationen zum Leben der Ich-Erzählerin: Sie hat eine Mutter und mindestens zwei Schwestern, wovon eine, wie sich später herausstellt, jünger als sie selbst ist. Außerdem ist sie bereits mit dreizehn Jahren von zu Hause ausgezogen und lebt derzeit bei Freunden in Berlin. Die Gründe für den frühen Auszug bleiben unerwähnt, sprechen jedoch für ein problematisches Verhältnis der Ich-Erzählerin zur Mutter. Auch wird hier noch nicht ersichtlich, was mit dem Vater des Mädchens passiert ist. »Rückschlüsse auf den familiären Hintergrund« sind deshalb nur »implizit [...] vorhanden« (Kloppert 211) und bleiben der Deutung der Lesenden überlassen.
Es wird hier und im Folgenden durch die Verwendung der Zeitform Präteritum schon deutlich, dass das Erzählte einige Jahre zurückliegen muss und vermutlich aus der Erinnerung einer mittlerweile erwachsenen Frau mitgeteilt wird. »Der [genaue] zeitliche Abstand zwischen erzählendem Ich und erzähltem Ich bleibt jedoch ungewiss.« (Kloppert 210) Dass es sich um ein weibliches »ich« handeln muss, wird erst etwas später durch die erwähnten Hintergrundinformationen zum Leben der Protagonistin deutlich. Dort berichtet sie über ihre Gelegenheitsjobs als Putzhilfe und »Kindermädchen« (52) und, dass sie sich vorstellen kann, als »Kellnerin« (52) zu arbeiten.

In der gesamten Erzählung bleiben Gefühle und Gedanken der handelnden Figuren größtenteils im Verborgenen. Nur über kurze Einschübe, wie zum Beispiel »Unsympathisch war er nicht, eher schüchtern.« (51), erfahren wir etwas über die Gefühlswelt und Meinungen der Protagonistin. Trotz der durch die personale Erzählperspektive ermöglichten »Innensicht«, werden die Erlebnisse zumeist »emotionslos« erzählt. (Schuster 476) Das »Mittel der Zeitraffung« und die nüchterne Wiedergabe des Gesagten »mithilfe der indirekten Rede« erzeugen eine »Distanz zur Handlung« (Schuster 476). Die Ich-Erzählerin präsentiert uns eine Außensicht auf etwas, dessen Innensicht sie genau kennt. Dadurch entsteht eine große Diskrepanz zwischen dem Wissen des erzählenden Ichs und dem, was die Lesenden durch die Mitteilungen der Erzählinstanz erfahren.
Zu Beginn der Geschichte lässt uns Franck an einem Telefonat zwischen der Ich-Erzählerin und einem für sie noch unbekannten Mann teilhaben. Die Lesenden erfahren nur Bruchstücke des Gesprächs, welches die Ich-Erzählerin nun aus der Perspektive eines vierzehnjährigen Mädchens berichtet und in der indirekten Rede wiedergibt. Durch die Verwendung des unbestimmten Artikels in der Wendung »eine fremde Stimme« (51) blendet die Erzählerin ihr jetziges Wissen als Erwachsene aus und übernimmt vollständig die Figurenperspektive des erlebenden Ichs.

Vor dem Hintergrund des jungen Alters des Mädchens erscheint die anschließende Verabredung der beiden zunächst in einem merkwürdigen Licht. Die Formulierung »solche Treffen« (51) sowie das anfänglich geäußerte »Unbehagen« (51) und Zögern lassen eine Liebesbeziehung zwischen dem Mann und dem minderjährigen Mädchen vermuten. Unterstrichen wird diese Lesart durch die Tatsache, dass die Ich-Erzählerin erwähnt, dass sie sich schminkt. »Dies löst beim Rezipienten eine starke Irritation aus und zwingt ihn dazu, sich mit dieser Leerstelle bis zum Schluss der Geschichte auseinanderzusetzen.« (Schuster 474) Diese anfängliche Irritation steigert sich noch, als die Protagonistin überlegt, ob der Mann ihr Geld geben werde, was »die Vermutung nahe[legt], es handle sich um Prostitution« (Kloppert 214).

Auffällig ist auch, dass der Mann sie in ein namentlich genanntes Café führt, während die anderen Orte in Berlin, die in der Geschichte vorkommen, namenlos bleiben und nur in ihrer Funktion erwähnt werden (vgl. »Kino«, »Restaurant« und später »Krankenhaus«). Dadurch werden den Lesenden erste Anhaltspunkte über das Milieu gegeben, in dem sich das Kennenlernen von Vater und Tochter vollzieht.

Beim Café Richter handelt es sich um einen real existierenden Ort am Hindemithplatz, der im Westen von Berlin in Charlottenburg liegt. Das Café hat eine lange Geschichte, da es bereits 1882 gegründet wurde und zuletzt unter dem Namen Café Reichert bekannt war. Mittlerweile ist der Standort am Hindemithplatz geschlossen. Daraus lässt sich ableiten, dass das Kennenlernen der beiden schon einige Jahre oder Jahrzehnte zurückliegen muss. Außerdem kennt der Vater offenbar die Gegend in Charlottenburg gut und wohnt dort eventuell sogar. Seine legere Kleidung und die Tatsache, dass das erste Treffen zwischen Vater und Tochter in einem Kaffeehaus stattfindet, geben Hinweise darauf, dass der Mann ein einfaches Leben führt.

Ein weiteres Detail, das in der Erzählung heraussticht, ist, dass der Film, den sich Vater und Tochter ansehen, durch den Zusatz des Filmregisseurs »Rohmer« (51) näher bestimmt wird. Damit wird unweigerlich auch eine Verbindung zur Identität des Vaters hergestellt, der selbst als Filmemacher arbeitet und Drehbücher schreibt. Da der französische Regisseur Éric Rohmer für Liebesthemen in seinen Filmen bekannt ist, wird jedoch gleichermaßen auch die Lesart der Liebesbeziehung zwischen Mann und Mädchen bekräftigt.

Als der Mann das Mädchen seinen Freunden vorstellt, erwähnt die Ich-Erzählerin ein »feines, ironisches Lächeln«, das »er zwischen sich und die anderen Menschen [zog].« (51) Auf diese Weise fungiert das Lächeln des Mannes wie eine Grenze oder unsichtbare Mauer, die er gegenüber seinen Mitmenschen errichtet hat. Eventuell ist dies ein Hinweis darauf, dass er zwar Freunde oder Bekanntschaften hat, aber diese nur oberflächlich sind. Die Aussage des Mädchens »Ich ahnte, was das Lächeln verriet.« (51) deutet auf ein tieferes Verständnis der beiden Protagonisten hin, das sowohl für die Lesart der Vater-Tochter-Beziehung als auch für die Lesart der Liebesbeziehung sprechen kann.

Veröffentlicht am 29. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 29. August 2023.