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Fabian

Aufbau des Werkes

In der Spätphase der Weimarer Republik (1929–1933) hatte Deutschland mit massiven ökonomischen und politischen Problemen zu kämpfen, die sich immer mehr verschärften. Der Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im Herbst 1929 verschlimmerte die Situation, sodass es zu einem sprunghaften Anstieg der Arbeitslosenzahlen kam. Dies hatte zur Folge, dass sich die sozialen Missstände vergrößerten, da die Beschäftigten mit Entlassungen und Lohnkürzungen konfrontiert wurden und die Gegenmaßnahmen der Regierung nicht mehr griffen.  

Kästners Beschreibungen der Einzelschicksale, die er in seinem Roman »Fabian« vornimmt, machen auf diese Verelendung und Resignation in der Bevölkerung aufmerksam. Da ist nicht nur ein Bettler, der einstmals als Bankangestellter sein Geld verdiente, sondern auch ein Erfinder, der ehemals als Unternehmer in der Textilindustrie erfolgreich war und nun als Obdachloser durch die Straßen ziehen muss. Der schleichende Prozess der Verelendung zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten und trifft zu guter Letzt auch den Hauptprotagonisten Fabian, der von seinem Chef eine Kündigung erhält.

Insbesondere die extremistischen Gegner der Weimarer Republik aus dem rechten und linken Lager sahen in dieser desolaten Situation ihre Chance, mit ihrer Agitation gegen den Staat, der keine Mittel gegen die wirtschaftliche und politische Krise fand, anzugehen. Die aufkommenden rechten Kräfte wie die neue Partei NSDAP nutzten diese Katastrophenstimmung für ihre politische Propaganda. In kürzester Zeit gelang es ihr, die verängstigte und enttäuschte Bevölkerung mit antiliberalen und antidemokratischen Hetzkampagnen auf ihre Seite zu ziehen. 

Die NSDAP wuchs zu einer Massenbewegung heran und stellte im September 1930 im Reichstag mit 18,2 % die zweitstärkste Partei dar. Zudem nahm der Einfluss extremistischer Parteien zu, sodass es zu keiner Mehrheit mehr im Parlament kommen konnte und die Regierung vom Reichspräsidenten eingesetzt werden musste. Es fehlte immer mehr der notwendige Rückhalt in der Bevölkerung. Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933, für die der Reichspräsident Hindenburg die Verantwortung trug, stand der Machtübernahme der NSDAP nichts mehr im Wege.

Die Schilderungen von Straßenkämpfen, Demonstrationen und Streiks der gegnerischen Parteien, die sich in Kästners Roman wiederfinden, vermitteln ein eindrückliches Bild von der damaligen Situation in den Straßen Berlins.  

Im gesellschaftlichen und kulturellen Leben war diese Krise ebenso zu spüren, denn viele traditionelle kulturelle Institutionen mussten aufgrund der desolaten ökonomischen Situation schließen. Das Aufkommen der Massenkultur, die mit den technischen Errungenschaften wie Rundfunk, Film und Fernsehen einherging, kann als ein weiterer Grund genannt werden, dass sich hier die Arbeitslosigkeit breitmachte. 

Infolgedessen lösten sich besonders in den Großstädten die traditionellen Wert- und Moralvorstellungen immer mehr auf, und die Prostitution nahm zu. Die kulturelle Blüte, die in Deutschland 1924–1929 in einer Phase relativer Stabilität herrschte und auch als die »Goldenen Zwanziger« bezeichnet wird, war nun in ihrem Abstieg begriffen. Nicht zuletzt sind diese Jahre oft auch als »Tanz auf dem Vulkan« bezeichnet worden, da sich die drohende Katastrophe der nationalsozialistischen Machtübernahme schon abzeichnete.

Kästner, der zu der Zeit persönlich in Berlin lebte, schrieb das Werk als Zeitroman zu den aktuellen Zuständen in der Weimarer Republik. Als exzellenter Beobachter seiner Zeit schickt er dazu seinen Hauptprotagonisten Fabian hinaus auf die Straßen der Großstadt und hinein ins Berliner Nachtleben, um hier die Atmosphäre und Stimmungen der kleinen Leute einzufangen. Dem Autor war es ein Anliegen, einer breiten Öffentlichkeit ein relativ wirklichkeitsgetreues Abbild der Gesellschaft zu vermitteln. Wie ein Reporter bewegt sich Fabian in dem Getümmel der Großstadt und berichtet über die menschlichen Schicksale, die ihm begegnen, genauso wie über die Gewalt und Kriminalität, die er hautnah miterlebt. Im individuellen Schicksal des Hauptprotagonisten Fabian spiegelt sich schließlich die Krise wider, die Deutschland erfasst hat. 

Kästner reiht sich mit dieser Thematik in die damals in der Literatur vorherrschende Strömung der Neuen Sachlichkeit ein. Dieser Begriff stammte ursprünglich aus der Kunst und wurde von den Literaturschaffenden in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen aufgegriffen. In Kästners Roman spiegeln sich zahlreiche Merkmale dieser Strömung wider. So zählt dieses Werk, ebenso wie die Romane von Thomas Mann »Der Zauberberg« (1924),  Erich Maria Remarque »Im Westen nichts Neues« (1928) sowie Alfred Döblin »Berlin – Alexanderplatz« (1929) zu den bedeutendsten Werken dieser literaturgeschichtlichen Epoche.

Die Autorinnen und Autoren der Neuen Sachlichkeit nahmen überwiegend eine politisch neutrale Haltung ein, denn sie fühlten sich nur an ihre Zeit gebunden, die sie als Beobachtende und Berichterstattende möglichst wirklichkeitsgetreu für eine breite Leserschaft abbilden wollten. Da sie dabei meist selbst in die Krisen ihrer Zeit persönlich eingebunden waren, weisen die Romane – wie der Roman »Fabian« – vielfach autobiografische Züge auf.

Veröffentlicht am 26. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 26. Oktober 2023.