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Fabian

Kapitel 6–9 (S. 66–108)

Zusammenfassung

Auf einer Brücke über der Spree stehend, tauschen sich die beiden Freunde ihre Lebensansichten aus. Fabian erzählt seinem Freund, dass ihn sein jetziger Zustand stark an sein Lebensgefühl vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs erinnere. Damals lebten sie schon in einer Art Provisorium, da sie wussten, dass sie bald in den Krieg ziehen mussten, womit das alltägliche Leben seinen Sinn verlor. Fabian sieht sich jetzt wieder oder immer noch in einem Europa, dessen Zukunft ungewiss ist. Er glaubt nicht mehr an die Vernunft des Menschen. Labude ist dahingehend noch sehr optimistisch und vertritt die Meinung, dass der Mensch durch sein Handeln durchaus die Macht besitze, auf die Politik Einfluss zu nehmen.

Sie hören Schüsse in der Nacht und eilen in ihre Richtung, bis sie zu einem Verletzten gelangen, der am Boden liegt. Es stellt sich heraus, dass es sich bei diesem Schusswechsel um eine Auseinandersetzung zwischen einem Kommunisten und einem Nationalsozialisten handelt. Kurz darauf findet Fabian den anderen Verletzten. Die Freunde begleiten beide Männer mit einem Taxi ins Krankenhaus. Dort weist der Arzt sie darauf hin, dass diese Ausschreitungen täglich zunehmen. Er führt diesen Fakt auf die schlechte wirtschaftliche Lage Deutschlands zurück.
Nach diesem Zwischenfall setzen Labude und Fabian ihren nächtlichen Streifzug durch Berlin fort.

Sie ziehen weiter in ein Kabarett, in dem sich Menschen auf der Bühne für Geld vom Publikum auslachen und verspotten lassen. So lässt der junge Direktor namens Caligula beispielsweise ein tanzendes junges Mädchen oder den scheinbar verrückten Paul Müller aus Sachsen auf seiner Bühne auftreten. Das Publikum zeigt seine Ehrerbietung, indem es Würfelzucker auf die Bühne wirft. Labude ist nicht gewillt, sich das Schauspiel noch länger anzusehen und möchte gehen.

In diesem Moment wird Fabian von einem Mann angesprochen, der behauptet, ein alter Schulkamerad von ihm zu sein.
Schnell stellt sich heraus, dass es sich um eine Verwechslung handelt. Angeregt durch das Gespräch mit dem Unbekannten, der sich als Jungunternehmer vorstellt und von seinem guten Leben mit Frau und Kind erzählt, stellen die beiden Freunde fest, dass es für die meisten jungen Leute heutzutage durch die wirtschaftlich instabile Lage in Deutschland kaum noch möglich sei, eine Familie zu gründen.

Labudes Eltern besitzen eine Villa am Grunewaldsee. Die Mutter ist jedoch nie zu Hause, sondern hält sich die meiste Zeit in Italien am Lago di Lugano auf. Der Vater, ein reicher Rechtsanwalt, verkehrt nachts in den Berliner Spielclubs, sodass auch er kaum in der Villa anzutreffen ist. Labude sieht seine Eltern aus diesen Gründen kaum.

Fabian, der sich in den luxuriösen Verhältnissen nicht wohlfühlt, besucht seinen Freund in dessen Villa und erfährt, dass Labude in Hamburg auf einer Veranstaltung der linksgerichteten Parteien seine politischen Pläne kundgetan hat. Sein Ziel ist es, sich mit allen jungen politisch Tätigen zu verbinden, um eine gemeinsame radikal bürgerliche Gruppe zu bilden. Fabian äußert zwar seine Bedenken, da er nicht an die Vernunft des Menschen glaubt, unterstützt seinen Freund jedoch bei seinen Plänen.

Labudes Vater erscheint kurz mit seiner Geliebten, begrüßt die beiden Freunde und verschwindet wieder.

Den Besuch in Hamburg nahm Labude auch als Gelegenheit, seiner Freundin Leda einen überraschenden Besuch abzustatten. Dabei findet er aufgrund einer heimlichen Beobachtung heraus, dass sie ihn betrügt. Bei einem anschließenden Zusammentreffen erzählt Leda ihm, dass sie vor einigen Wochen einen Schwangerschaftsabbruch hat vornehmen lassen. Labude fragt, von wem das Kind denn sei und stellt sie zur Rede. Als sie jedoch den Geliebten leugnet, verlässt er ohne ein Wort ihre Wohnung.

Die beiden Freunde besuchen das Atelier der lesbischen Bildhauerin Ruth Reiter, in dem sich relativ freizügig sexuelle Kontakte ergeben. Sie selbst hat eine Beziehung zu ihrer Aktdarstellerin namens Selow. Labude lässt sich mit einer Frau namens Kulp ein, und Fabian kommt mit einer Frau Battenberg, einer jungen Juristin, ins Gespräch. Sie unterhalten sich über die Problematik moderner Beziehungen. Die Frau erzählt ihm von ihren schlechten Erfahrungen mit Männern, die sie im Stich gelassen haben, sodass sie jetzt an einer Beziehung nicht mehr interessiert sei. Fabian macht auf die desolate Situation der jungen Männer aufmerksam, die in diesen schlechten Zeiten oftmals kaum eine Wahl hätten, ihrer Verantwortung gegenüber dem weiblichen Geschlecht gerecht zu werden.

Ein todkranker Freier erscheint, der nach der Prostituierten Kulp verlangt. Um die beiden allein zu lassen, gehen alle anderen in einen Club namens »Cousine«, in dem überwiegend Frauen verkehren. Fabian unterhält sich hier weiter mit seiner neuen Bekanntschaft. Währenddessen kommt Kulp in das Lokal herein und bricht zusammen. Sie wurde von ihrem Freier misshandelt. Selow hat inzwischen Gefallen an Labude gefunden, lässt ihre Freundin Ruth alleine auf der Tanzfläche zurück und verschwindet mit ihm. Fabian begleitet seine neue Bekanntschaft mit dem Namen Cornelia nach Hause.

Analyse

Anhand der genauen Ortsbeschreibungen, die Kästner seinen Leserinnen und Lesern an die Hand gibt, erzeugt er zum einen eine authentische Atmosphäre der Stadt Berlin; zum anderen können sie die nächtlichen Streifzüge der beiden Freunde Fabian und Labude durch die Metropole im Geiste genau mitverfolgen. Der Autor erwähnt häufig bedeutende Plätze und Denkmäler, die er geschickt in seine Geschichte einbindet. Der »Steinerne Roland« (S. 66f.), an dem sie vorbeikommen, verkörpert als Ritter das Sinnbild der bürgerlichen Freiheit, die allem Anschein nach in Deutschland immer mehr gefährdet ist.

Die Auseinandersetzungen der verfeindeten rechten und linken politischen Lager finden am Ende der Weimarer Republik immer mehr auf den Berliner Straßen statt, wo sich die Unzufriedenheit der Bevölkerung über die Regierung nun unter Einsatz von Gewalt und Schusswaffen entlädt. So werden Fabian und Labude in der Nacht Zeugen einer Schießerei zwischen einem Anhänger der Kommunisten und einem Befürworter der Nationalsozialisten.

Fabian, der sich zwar unpolitisch gibt, äußert hier seine Sympathie gegenüber dem Arbeiter, indem er ihn Folgendes wissen lässt: »Und ich bin euer Freund, denn wir haben denselben Feind, weil ich die Gerechtigkeit liebe.« (S. 71) Doch fügt er ausdrücklich hinzu, dass auch die Armut des Proletariats kein Garant dafür sei, dass es in der Arbeiterbewegung die besseren Menschen gibt: »Man ist noch nicht gut und klug, bloß weil man arm ist.« (S. 71) Dies verdeutlicht Fabians innere Verlorenheit, denn er kann sich in diesem System keiner Seite zuordnen, da er in seinem Inneren dem Menschen an sich ein tiefes Misstrauen entgegenzubringen scheint.

In dieser Nacht kommen bei Fabian, ausgelöst durch die Schießerei, die traumatischen Erinnerungen an die Geschehnisse im Ersten Weltkrieg zurück. Er hat nicht nur ein Herzleiden davongetragen, sondern leidet auch unter »schrecklichen Fotografien, die er gesehen hatte« (S. 71) und von denen er häufig träumen muss. Die Vorstellung, dass in der Provinz noch immer »verstümmelte Soldaten« (S. 70) in einsamen Gebäuden liegen, die ihren Familien als vermisst gemeldet wurden, aber noch am Leben sind und von Krankenschwestern gepflegt werden, führen ihm wieder die Sinnlosigkeit des Krieges vor Augen.

Es kann angenommen werden, dass Kästner, der als junger Mann selbst im Ersten Weltkrieg war und mit einem schweren Herzleiden zurückkam, Teile seiner eigenen Erfahrungen in seinen Hauptprotagonisten Fabian hineingelegt hat. Zudem hat der Autor ihm wohl aus diesem Grund auch die Haltung eines Antimilitaristen zugedacht, die er zeitlebens selbst eingenommen hat.

Gegenüber seinem Freund Labude, der Fabian vorwirft, zögerlich und tatenlos zu sein, weil er nicht ins politische Handeln kommt, gesteht Fabian, dass er nämlich Angst vor einem erneuten Krieg hat, die ihn lähmt und daran hindert, aktiv zu werden. Sie überfiel ihn schon damals, als er direkt aus der Schule kommend für den Ersten Weltkrieg eingezogen wurde und begleitet ihn bis heute: »Saßen wir nicht unter einer Glasglocke, aus der man langsam, aber unaufhörlich die Luft herauspumpt? Wir begannen zu zappeln, doch wir zappelten nicht aus Übermut, sondern weil uns die Luft wegblieb.« (S. 67)

Ende der Zwanzigerjahre befand sich Europa nun wieder in einer Krisensituation und die Gefahr eines weiteren Weltkriegs war durchaus gegeben. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise stieg die Arbeitslosigkeit rasant an, womit auch die Armut und Kriminalität sprunghaft zunahmen. Die Regierung war nicht in der Lage, mit geeigneten Maßnahmen gegenzusteuern. Stattdessen setzte sie unter Reichskanzler Heinrich Brüning mit den sogenannten Notverordnungen auf eine harte Sparpolitik. Löhne, Renten und soziale Hilfen wurden gekürzt, was die Lage noch verschlimmerte. Die sozialen Missstände wuchsen, Unmut und Resignation machten sich breit. Diese Katastrophenstimmung wurde von den Gegnern der Demokratie aus dem rechten sowie linken Lager genutzt, um die Gesellschaft zu spalten. Dabei gewann die NSDAP immer mehr an Einfluss, sodass sie bei den Reichstagswahlen im September 1930 schon bei 18,2 % lag und nach der SPD die zweitstärkste Kraft bildete.

Labude möchte eine politische Veränderung herbeiführen und setzt auf die Radikalisierung und Vernetzung der bürgerlichen Jugend. Sein Ziel ist es, alle linksgerichteten Kräfte zu bündeln, um eine neue Partei zu gründen. Fabian entgegnet dem Freund, dass er »nicht glaube, dass sich Vernunft und Macht jemals heiraten werden« (S. 90). Zudem sei ein Wandel des Systems zwecklos, denn »solange der Mensch ein Schwein ist« (S. 90), wird er sich auch noch in einem paradiesischen Zustand gegenseitig bekämpfen. So kann Fabian nicht anders, als im Status eines Beobachters zu bleiben.

Da Kästner zwar zeitkritisch war, aber immer eine zurückhaltende und distanzierte Haltung gegenüber dem politischen Geschehen an den Tag legte, ist anzunehmen, dass er diesbezüglich sein eigenes Verhaltensmodell auf seinen Hauptprotagonisten Fabian übertragen hat.

Die prekäre gesellschaftspolitische Lage hatte auch Auswirkungen auf das kulturelle Leben in Berlin. Die Prostitution nahm zu, und der Zerfall traditioneller Werte war überall zu beobachten, was sich insbesondere in den Berliner Bars und Nachtclubs widerspiegelte. Hier herrschte sexuelle Freizügigkeit und auch die gleichgeschlechtliche Liebe war längst kein Tabu mehr. Obwohl diese nach dem Paragrafen 175 unter Strafe stand, gab es im Berlin der Zwanzigerjahre in der avantgardistischen Kunst- und Kulturszene unzählige Orte, an denen man seine sexuellen Vorlieben ausleben konnte.

Kästner führt seine Leserschaft nun genau in diese verruchten und anrüchigen Etablissements, denn Fabian und Labude amüsieren sich hier in der Nacht und treffen auf zahlreiche skurrile Gestalten aus den verschiedensten Milieus. Im »Kabarett für Anonyme« setzt ein Mann eine unmenschliche Geschäftsidee um. Er hat »Halbverrückte aufgelesen und lässt sie singen und tanzen.« (S.77) Er hat sich selbst nach dem römischen Kaiser »Caligula« (ebd.) benannt, was sehr bezeichnend ist, da dieser für seine Grausamkeit bekannt war. Denn es ist ein unwürdiges Schauspiel, was Kästner seinen Leserinnen und Lesern nun beschreibt. Die Darbietenden werden vom Publikum verhöhnt und ausgelacht, mit Würfelzucker beworfen und zuletzt vom Direktor hinauskatapultiert.

Hier wird von Kästner verdeutlicht, zu welchen unmoralischen Zuständen es in einer Gesellschaft kommen kann, wenn Menschen sich unter ihrer Würde verkaufen müssen, und das gut zahlende Publikum sich am Elend dieser notleidenden Menschen ergötzt. Hier herrschen wahrlich »Zustände wie im alten Rom«, denn diese Episode zeigt, wie sehr die Dekadenz in der Gesellschaft schon fortgeschritten ist.

Auch im Atelier der lesbischen Bildhauerin Ruth Reiter geht es unmoralisch zu. Kästner nimmt hier kein Blatt vor den Mund und beschreibt sogar offen eine Sexstellung: »Letzte Position, mein Schatz, Rumpfbeuge vorwärts, Knie einknicken, Gesäß heraus, Hände auf die Knie, gut, halt!« (S.100) Aus diesem Grund war der Autor gezwungen, schon vor der Erstveröffentlichung allzu erotische Szenen herauszustreichen. Die Nationalsozialisten bezeichneten wenig später den Roman als »entartet« und warfen ihn 1933 bei der Bücherverbrennung ins Feuer.

Hier lässt sich Labude mit einer Frau namens Kulp ein, um über den Verlust seiner langjährigen Freundin Leda hinwegzukommen. Laut Fabian ist »er ein moralischer Mensch und es war immer schon sein Ehrgeiz gewesen, seinen Lebenslauf ohne Konzept und ohne Fehler gleich ins Reine zu schreiben.« (S.129) Nun vergisst aber auch er seine Moral.

Kästner macht hier noch auf ein weiteres Problem aufmerksam, und zwar auf die Gewalt gegen Frauen. Die Prostituierten waren gezwungen, für Geld alle Wünsche ihrer Freier zu erfüllen, das heißt, sie mussten sich auch Misshandlungen gefallen lassen. Die Prostituierte Kulp wird von einem Freier krankenhausreif geschlagen: »Sie schrie nicht, sie sprach nichts. Sie brach zusammen.« (S.107)

Fabian macht in diesem »Saustall« (S.100) die Bekanntschaft mit der jungen angehenden Rechtsanwältin Cornelia Battenberg. Es handelt sich um eine selbstbewusste und zielstrebige Frau, die sich auf ihre Unabhängigkeit und berufliche Karriere konzentriert.

Kästner stellt in der Kommunikation zwischen Fabian und Cornelia heraus, dass sich die traditionellen Geschlechterrollen in der Spätphase der Weimarer Republik im Wandel befinden. Die Frauen sind bestrebt, sich von der Abhängigkeit des Mannes zu emanzipieren und sich beruflich eine eigene Karriere aufzubauen. Sie sind nicht länger bereit, die Wünsche von Männern zu erfüllen, sondern möchten ihren eigenen Bedürfnissen nachgehen. Aber auch die Männerrolle ist im Umbruch, denn die klassische Rolle des Ernährers kann der Mann in diesen Krisenzeiten kaum mehr erfüllen. Von Arbeitslosigkeit bedroht, ist es ihm kaum mehr möglich, eine eigene Familie zu gründen. Der Mann ist kein Garant mehr, der Frau eine sichere Zukunft zu bieten. Fabian stellt fest: »Die Familie liegt im Sterben.« (S. 101)

Veröffentlicht am 25. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023.