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Fabian

Interpretation

Die Moral in unmoralischen Zeiten

Schon der Untertitel »Die Geschichte eines Moralisten«, den Kästner für seinen Roman »Fabian« gewählt hat, verweist auf seinen Hauptprotagonisten, der sich selbst als einen Moralisten bezeichnet.

Im Vorwort erklärt Kästner seiner Leserschaft die Aufgabe eines Moralisten: Er hat die Pflicht, der Gesellschaft »keinen Spiegel, sondern einen Zerrspiegel« (S. 6f.) vorzuhalten. Kästners Hauptprotagonist Fabian soll also das Bekehren und Belehren über die realen politisch-gesellschaftlichen Zustände in der Spätphase der Weimarer Republik mit satirischem Ernst betreiben. So werden sowohl die Laster als auch die Tugenden der Menschen von ihm überzeichnet, sodass oftmals eine gewisse Komik entsteht, die einerseits die Leserschaft zum Schmunzeln, andererseits aber auch zum Nachdenken anregt.  

Die Figur Fabian, die der Autor entworfen hat, ist jedoch grundsätzlich von einer inneren Zwiespältigkeit gekennzeichnet. Obwohl sich Fabian selbst als Moralisten sieht, wird nicht klar definiert, was er darunter versteht: Er weiß nur, dass er dabei helfen möchte, die Menschen zur Vernunft und Anständigkeit zu erziehen. Ob sie sich dafür überhaupt eignen, muss er jedoch erst feststellen, indem er sie beobachtet (S. 59).

Fabian selbst führt zudem einen Lebenswandel, bei dem er sich keineswegs an moralische Grundsätze hält. Er besucht verbotene Bordelle, lässt sich mit verheirateten Frauen ein und ist auch für kurze erotische Abenteuer zu haben. Zudem verschweigt er seiner Mutter die Wahrheit, denn er verheimlicht ihr seine Arbeitslosigkeit. Seine eigene Glaubwürdigkeit bekommt im Verlauf des Geschehens dahingehend immer mehr Risse, da seine unmoralischen Verhaltensweisen in einem starken Widerspruch zu seiner Selbstwahrnehmung als Moralist stehen. Zugutehalten kann man ihm jedoch, dass er sich gegenüber seinen Mitmenschen, die ihm begegnen, überwiegend sozial und hilfsbereit verhält. Auch hält er bis zuletzt an seinem kritischen Bewusstsein fest. 

Fabian reiht sich nicht in den allgemeinen Tenor ein, der jetzt vorherrscht: nämlich, sich dem Kapital und der Macht zu beugen, weil die desolaten äußeren Umstände, in denen der Mensch lebt, ihn aus Not dazu zwingen, auch unmoralisch zu handeln. Er bleibt sich selbst treu und nimmt den Job in Dresden als Journalist nicht an, weil er die rechtsgerichtete politische Haltung dieser Zeitung mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann (S. 266).   

Seinen Hauptprotagonisten Fabian mit seinen unklaren Lebens- und Zielvorstellungen entwarf Kästner für seine Leserschaft jedoch weniger als moralisches Vorbild, das andere Menschen mit einem fertigen Lebensmodell anleiten soll, wie man ein besseres Leben führt. Vielmehr hat Kästner ihm die Aufgabe zugedacht, durch die passive, aber scharfsichtige Haltung eines Beobachters, die er gegenüber seiner Umwelt einnimmt, den Menschen möglichst sachlich und nüchtern zu berichten, wie unmoralisch und verroht es in der Großstadt Berlin zugeht. 

Kästner hat seiner Figur Fabian sozusagen einen »Zerrspiegel« in die Hand gegeben, in den die Menschen hineinschauen können, um sich selbst ein Bild über die prekäre Lage zu machen. Sein Herzenswunsch wäre dann, dass die Menschen aus ihrer Vernunft und Einsicht heraus zu einer moralischen Haltung finden würden. Die Moral ist also weniger als eine Charaktereigenschaft des Hauptprotagonisten Fabian anzusehen, sondern fungiert eher als ein Darstellungsmittel Kästners.

Am Anfang der Geschichte besitzt Fabian noch die Vorstellung, der Mensch sei bestrebt, aus seinem eigenen Willen heraus, sich selbst moralisch und damit auch den kranken Zustand der Welt zu verbessern. Ihm kommen im Verlauf der Geschehnisse jedoch immer mehr Zweifel an diesem Glauben. Er fragt sich nun, ob der Mensch überhaupt reif und gewillt ist, sich in dieser durch und durch unmoralischen Gesellschaft sittlich und moralisch weiterzuentwickeln.  

Sein vages Ziel rutscht Fabian bildlich gesprochen anhand der eigenen Schicksalsschläge und der realen Gegebenheiten immer mehr unter den Füßen weg. Schnell muss er feststellen, dass seine Vorstellung von Vernunft und Moral mit dem gesellschaftspolitischen System, das in der Spätphase der Weimarer Republik existiert, nicht vereinbar ist. Langsam rückt dieser unüberbrückbare Graben immer deutlicher in sein eigenes Blickfeld, denn überall trifft Fabian auf die Verlogenheit und die Unmoral der Menschen. 

Skrupellose Journalisten verbreiten falsche Nachrichten, Frauen betrügen ihre Ehemänner, und selbst seine Freundin Cornelia verkauft sich an einen Regisseur, den sie nicht liebt, um eine Filmrolle zu bekommen. So scheitert Fabian letztendlich nicht nur an der Einsicht, dass er vergeblich auf den »Sieg der Anständigkeit« (S. 112) der Menschheit zu warten scheint. Denn darüber hinaus wird ihm auch noch klar, dass es kein gesellschaftliches System geben kann, das von Vernunft und Moral geleitet wird, solange der Mensch an sich »ein Schwein« (S. 90) ist.

In diesem Dilemma scheint Fabian nun nach seiner Abreise aus Berlin gefangen zu sein.  Selbst in der beschaulichen Provinz Dresden muss er feststellen, dass er als Moralist keine Überlebenschance haben wird. Zudem gesteht er sich ein, dass er persönlich gescheitert ist, da er es nicht vermocht hat, unabhängig vom jeweils herrschenden System und von anderen Menschen, seinem eigenen Anspruch zu genügen (S. 267). Er war nicht in der Lage, seine Zuschauerrolle zu verlassen und sein eigenes Leben aktiv in die Hand zu nehmen. Als er am Ende ins Handeln kommt, scheint es zu spät für ihn zu sein, denn er ertrinkt, weil er nicht schwimmen kann.

Die politische Dimension des Romans und seine heutige Aktualität

Aus dem Vorwort, das Kästner seinem Roman in der Neuauflage von 1950 voranstellte, geht eindeutig hervor, was er mit dieser Geschichte bezweckte: die breite Öffentlichkeit über den desolaten Zustand der gesellschaftspolitischen Lage, die am Ende der Weimarer Republik in Deutschland herrschte, aufmerksam zu machen und sie auf die Gefahr hinzuweisen, die sich am Horizont schon abzeichnete: den Aufstieg der Nationalsozialisten. 

Wie die Historie jedoch gezeigt hat, hat Kästner sein Ziel nicht erreicht. Durch die Weltwirtschaftskrise wuchsen die sozialen Missstände rasant an und bildeten schon den Nährboden für den Aufstieg der Nationalsozialisten. Doch gegenüber den ersten Anzeichen, die insbesondere in der Großstadt Berlin schon zu spüren waren, wie Kästner im Roman eindrucksvoll darlegt, gab sich die deutsche Bevölkerung blind: »Man lief den Rattenfängern nach, hinein in den Abgrund […].« (S. 6)

Auch wenn Kästner mit Fabian einen Hauptprotagonisten geschaffen hat, der sich überwiegend unpolitisch gibt, kann das Werk durchaus als politischer Roman verstanden werden. Der Autor hat sich in dieser Zeit selbst nie in die Politik eingemischt und verhielt sich diplomatisch und zurückhaltend gegenüber der herrschenden Regierung. So kann die Annahme getroffen werden, dass Kästner in die Figur des Fabian auch einen Teil seiner eigenen distanzierten Haltung hineinprojiziert hat.

Denn auch Fabian nimmt gegenüber dem politischen Tagesgeschehen eher eine passive Haltung ein und verhält sich dazu überwiegend neutral. In Bezug auf die menschlichen Begegnungen, die er hat, nimmt er jedoch eine aktive und soziale Rolle ein. Im weitesten Sinne handelt Fabian in seinem Alltag auch sehr politisch, zeigt Zivilcourage, indem er den sozial Schwächeren in der Gesellschaft wie selbstverständlich seine Hilfe anbietet.

Dass er kein Gegner der jungen Demokratie ist, zeigt sich in einem Streitgespräch mit Redakteuren in einer Zeitungsredaktion über die Rolle der Medien. Denn Fabian rät ihnen, im Zweifelsfall nicht gegen, sondern immer für die Regierung zu schreiben (S. 33). Hier bekennt er sich, im Gegensatz zu den Journalisten, die sich als Sympathisanten der rechtsnationalen Kräfte entpuppen, eindeutig zur Weimarer Republik. Seine Antipathie gegen Anhänger der Nationalsozialisten zeigt er ebenso gegenüber einem verletzten Straßenkämpfer des rechten Lagers, denn er lacht ihn aus. Dem Kommunisten hingegen äußert Fabian seine Sympathie (S. 71).

Des Weiteren steht Fabian entschieden zu seiner antimilitaristischen Haltung und lehnt jede Form von Gewalt und Krieg ab. Durch seine eigenen traumatischen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg hat er erfahren müssen, wie der Krieg das Leben von Millionen von jungen Männern zerstört und ihnen die Zukunft geraubt hat (S. 67f.). Ihm ist die Sinnlosigkeit eines Krieges bewusst, und er hat Angst, dass es bald wieder zu einem Krieg kommen könnte, da sich die Gesellschaft immer mehr spaltet. 

Durch Kästners eindrückliche Beschreibung des sozialen Elends, der gewalttätigen Auseinandersetzungen und Demonstrationen verdeutlicht er seinen Leserinnen und Lesern, wie die gespannte politische Lage sich immer mehr zuspitzt und sich der Raum für die rechten Kräfte zu verbreitern scheint. Genau vor dieser politischen Entwicklung wollte Kästner warnen. Er hat mit seiner scharfen Beobachtungsgabe und spitzen Feder ein Werk geschaffen, das er als ein Warnsignal in die Welt schickte, um der deutschen Bevölkerung zu veranschaulichen, wie schnell sich in einer Gesellschaft die politischen Kräfteverhältnisse verändern können. Dies kann durchaus als ein politischer Akt angesehen werden.

Der Roman, der vor über 90 Jahren von Kästner verfasst wurde, hat bis heute noch nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Kästners Botschaft ist politisch und zeitlos, denn er appelliert an seine Leserinnen und Leser, immer und überall wachsam und kritisch gegenüber den Machthabenden und der gesellschaftspolitischen Realität zu sein. In einer Welt im Umbruch, in der Kriege noch immer zur Realität gehören und in der insbesondere die junge Generation durch die Globalisierung, Digitalisierung, Klima- und Umweltkrisen immer mehr die Orientierung zu verlieren scheint, sind mündige und kritische Bürgerinnen und Bürger mehr denn je gefragt.  

Parallelen der Romanfigur Fabian zur Biografie des Autors

In der Forschungsliteratur wird immer wieder betont, dass sich Leben und Werk Erich Kästners fast eins zu eins in seiner Hauptfigur Fabian widerspiegeln. In der Tat gibt es zwar zahlreiche Übereinstimmungen des Autors in Bezug auf dessen Weltanschauung und auf viele biografische Details mit seinem Hauptprotagonisten Fabian. Dennoch hat Kästner mit diesem Roman keine Autobiografie verfasst, sondern lediglich einen Teil von sich, überwiegend in die Figur Fabian, aber auch in dessen Freund Labude, hineinprojiziert.

Beide Figuren treten in Kästners Roman als promovierte Literaturwissenschaftler auf. Zudem hatte der Autor, selbst Doktor der Germanistik, ebenso wie Labude einmal vorgehabt, seine Promotion über den Schriftsteller Lessing zu schreiben, was er jedoch wieder aufgab. Auch die beiden Schauplätze, die Kästner als Kulisse für seinen Roman wählte – Berlin und Dresden –, wurden von ihm aus seinem eigenen Leben gegriffen. In seinem Heimatort Dresden wuchs er auf, und in Berlin studierte und lebte er bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs.

Kästner stammt, wie seine Figur Fabian, aus einfachen, kleinbürgerlichen Verhältnissen: sein Vater arbeitete als Sattler, seine Mutter als Hausangestellte und später als Friseurin. Die Mutter überschüttete ihren Sohn mit Fürsorge und Liebe und lebte nur für ihn. Sie projizierte ihre Träume, insbesondere von einem beruflichen Aufstieg, ausschließlich auf ihren Sohn. Diese intensive Beziehung, die sich auch durch den fast täglichen Briefwechsel, den beide miteinander führten, ausdrückte, bildet Kästner in seinem Roman mit dem tiefen Kontakt zwischen Fabian und seiner Mutter nach. Dem Druck, die Mutter nicht zu enttäuschen und ihren Erwartungen genügen zu wollen, war Kästner – ebenso wie Fabian – ein Leben lang ausgesetzt.

Den Drill der militärischen Ausbildung, dem sich Kästner als Siebzehnjähriger unterziehen musste, seine traumatischen Kriegserlebnisse aus dem Ersten Weltkrieg, die er zeitlebens nicht vergessen konnte und die ihn zu einem Antimilitaristen machten, sowie seine davongetragene Herzschwäche teilt sich der Autor ebenso mit seinem Hauptprotagonisten Fabian.  

In Leipzig ist es Kästners journalistische Arbeit, bei der er Werbetexte verfasste und Preisausschreiben betreute, mit der eine Parallele zu Fabians Leben gezogen werden kann. In dieser Zeit wohnt er auch bei einer Witwe zur Untermiete und hielt sich mit verschiedenen Nebenjobs finanziell über Wasser.

Die zahlreichen Liebschaften, die Kästner nach seinem Umzug nach Berlin hatte, verdeutlichen, dass er wie Fabian dem weiblichen Geschlecht zeitlebens sehr zugetan war. Seine erste langjährige Liebesbeziehung mit Ilse Julius (1919–1926) diente Kästner als Vorlage zur Darstellung der gescheiterten Beziehung zwischen Labude und seiner Verlobten Leda, die diesen nach acht Jahren verließ.

Nicht zuletzt ist es die passive Haltung gegenüber dem politischen Tagesgeschehen, die seine Romanfigur Fabian an den Tag legt und mit Kästners eigener Einstellung zu Politik und Regierung verglichen werden kann. Diese war nämlich ebenso von einer Strategie der Nichteinmischung und Zurückhaltung geprägt, denn Kästner hat sich in seinem Leben weder ideologisch noch parteipolitisch konkret positioniert. Dies lässt die Annahme zu, dass der Autor seine eigene Haltung als Vorlage für Fabians neutrale Grundhaltung genommen haben könnte.  

Veröffentlicht am 26. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 26. Oktober 2023.