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Die Verwandlung

Historischer Hintergrund und Epoche

Kafka einer bestimmten Epoche zuzuordnen ist einerseits sehr leicht, andererseits unmöglich. Kafka ist ein Vertreter der klassischen Moderne, also der Literatur, die vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts reicht. Allerdings gehört Kafka keiner der großen Stilrichtungen Naturalismus, Expressionismus, Dadaismus, Futurismus oder Surrealismus an. Dennoch weist er immer wieder Elemente auf, die in diesen Stilrichtungen vorkommen. 

Kafka ist – und vielleicht ist das auch der Grund, warum er Zeit seines Lebens kein besonders erfolgreicher Schriftsteller war –  ein echter Außenseiter. Allerdings im besten Sinne des Wortes. Während andere Schriftsteller bestimmte Programme zu verfolgen hatten, hat Kafka einfach geschrieben, was ihm aus der Feder rann und das gehört zum weltweit Meistgelesenen. Es ist sehr schwierig, darüber konkrete Aussagen zu machen, aber Kafka gehört definitiv zu den bekanntesten Erzählern aller Zeiten. Und das obwohl sein Werk nicht sonderlich umfangreich ist.

«Die Verwandlung» ist im Herbst 1912 entstanden, einem Jahr, das für Kafkas Schriftstellerei sehr wichtig war (Poppe 2010, S. 164 f.). Auch seine Erzählung «Das Urteil», die er als Durchbruch ansah, entstand im Herbst 1912. Außerdem verlobte er sich in diesem Jahr. Von den sich abzeichnenden politischen Spannungen, die sich zwei Jahre später im Ersten Weltkrieg entladen sollten und die dazu führten, dass sein Heimatland (Österreich-Ungarn) auseinanderbrach, findet sich bei Kafka bemerkenswert wenig. Seine Literatur ist überzeitlich und kaum mit der realen politischen Welt befasst.

Allerdings lassen sich in der Forschung durchaus Quellen ausmachen, die Kafka zu «Die Verwandlung» inspiriert haben dürften. So wird zum Beispiel «Der Doppelgänger» von Fjodor Dostojewskij als mögliches Vorbild genannt. Auch in dieser Erzählung ist übermäßiger sozialer Druck der Grund für eine Selbstentfremdung des Protagonisten. Allerdings gibt es Unterschiede: Dostojewskis Jakow Goldjakin wird psychisch krank und muss in eine Psychiatrie gebracht werden, Gregor Samsa bleibt zwar vernünftig, verwandelt sich aber in ein Ungeziefer (ebd.).

Aber auch seine persönlichen Lebensumstände dürften Kafka dazu bewogen haben, die Erzählung zu schreiben. So schreibt er in einem Brief an seine Verlobte Felice Bauer, er werde »eine kleine Geschichte niederschreiben [...], die mir in dem Jammer eingefallen ist und mich innerlichst bedrängt« (Kafka 1999, S. 241). Eine solche Aussage scheint nahezulegen, dass die Erzählung letzten Endes als Therapie dienen sollte. 

Tatsächlich gibt es gewisse Parallelen zwischen der Person Franz Kafka und der Figur Gregor Samsa. Beide sind bereits berufstätige junge Männer; Gregor hat den Militärdienst, Franz das Studium hinter sich. Beide leben auch noch bei ihren Eltern. Nicht zuletzt leiden beide unter starken Vaterfiguren. Das heißt zwar nicht, dass Figur und Autor identisch wären, so ist Gregor deutlich naiver als der gebildete und kritisch denkende Kafka. Dennoch ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gregor Samsa und Franz Kafka ein sehr geeigneter interpretativer Ansatz.

Veröffentlicht am 13. Januar 2023. Zuletzt aktualisiert am 13. Januar 2023.