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Die Verwandlung

Interpretation

«Die Verwandlung» ist so ambivalent, dass sich überaus viele mögliche Interpretationen durchführen lassen. So lässt sich «Die Verwandlung» poststrukturalistisch als Dekonstruktion des Signifikanten Gregor Samsas verstehen. Gregor ist eine erzählte Figur, das bedeutet, er ist ein Signifikant, er drückt etwas aus. Weil Gregor aber ein Signifikant ist, lässt er sich auch dekonstruieren. Darunter versteht man, etwas hinsichtlich seiner unhinterfragten Bedeutungsanteile zu untersuchen. Der Gegenstand des Interesses wird zerlegt, destruiert, und dann rekonstruiert, in seinem ideologischen Aufbau nachvollzogen. Solche Ansätze sind bei Texten von Kafka recht beliebt, allerdings sind sie äußerst schwer verständlich (vgl. etwa Münster 2011). Dekonstruktivistische Ansätze agieren im Grenzgebiet von Literaturwissenschaft und Philosophie. 

Auch aus der Perspektive der Gender-Studies ließe sich fruchtbringend mit dem Text umgehen. Die wohl berühmteste Gender-Wissenschaftler:in, Judith Butler, hat den Begriff des «Abjekts» aufgegriffen: «Abjekte» sind das, was «Subjekte» brauchen, um als «Subjekte» zu bestehen. Wesentlich für das «Subjekt» ist nach Ansicht Butlers seine Geschlechtsidentität. Verschärfend kommt hinzu, dass in der westlichen Gesellschaft nach Auffassung der Gender Studies nur zwei zulässige Geschlechtsidentitäten existieren: der heterosexuelle Mann und die heterosexuelle Frau. Alle, die weder das eine noch das andere oder das eine und das andere zugleich sind, werden zu «Abjekten», zu Verworfenen (Butler 1997, S. 23 ff.).

Genau zu solch einem «Abjekt» wurde auch Gregor. Zuvor war er ein heterosexueller, auch attraktiver Mann. Im Wohnzimmer hängt ein Foto von Gregor, das ihn in seiner Militäruniform zeigt (135). Der einst stolze Leutnant ist zum Käfer erniedrigt worden. Zwar trägt er immer noch eine Uniform, aber die ist der Chitinpanzer des Ungeziefers. Aus einer Gender-Perspektive ist Gregor als geschlechtsloser Käfer nicht mehr in der Lage, seinen Subjektstatus zu erhalten. Die Konsequenz ist zunächst der bürgerliche Tod und in dessen Folge auch der physische.

Ein anderer, nachgerade klassischer Zugang besteht in einer psychoanalytischen Deutung der Erzählung. Hierbei kommt vor allem der Beziehung innerhalb der Familie eine hohe Bedeutung zu. Der Vater ist alt und schwach geworden, weil der Sohn für ihn einspringen musste. Franz Kafka schildert in seiner kurz vor «Die Verwandlung» entstandenen Erzählung «Das Urteil» eine ganz ähnliche Konstellation. Weil der Vater seiner Vormachtstellung beraubt wurde, ist Gregor, das Kind, der Vater im Hause Samsa. Damit vertritt Gregor psychoanalytisch verstanden: das Gesetz. Der Psychoanalytiker Jacques Lacan hat dieser Konstellation den Namen Nom-du-père gegeben, auf Deutsch: Name-des-Vaters. Im Französischen klingt Nom-du-père aber wie Non-du-père, zu Deutsch: Nein-des-Vaters. Der Name-des-Vaters realisiert sich im ersten Nein-des-Vaters, das das Kind zu hören bekommt. Lacan versteht den Vorgang so: Zwischen Kind und Mutter besteht eine sogenannte dyadische Beziehung. Für das Kind gibt es nur diese Beziehung. Diese wird aufgebrochen in dem Moment, in dem der Vater das erste Mal dem Kind entgegentritt und es an etwas hindern will. Zuvor ist der Vater dem Kind gar nicht aufgefallen. So ergibt sich, dass das Nein-des-Vaters der erste Einbruch der Realität, des Gesetzes Nom-du-père ist.

Gregors Vater gewinnt an Stärke, je öfter er Nein sagt. Er tritt das erste Mal hervor, während er »ein großes Nein« (151) sagt. Später muss die Mutter dem Vater Gregors Leben abbitten. Diese Szene scheint eine psychoanalytische Deutung geradezu zu fordern. Allerdings ist auch ein anderer Ansatz ergiebig. Dieser besteht darin, die Machtkonstellationen zu analysieren, denen Gregor unterworfen ist. Der Literaturwissenschaftler Oliver Jahraus geht etwa auf eine solche Weise vor (vgl. Jahraus 2006, S. 215 ff.).

Gregor erwacht, so gesehen, in einem sehr menschlichen Dilemma: er will zur Arbeit, aber er kann nicht. Bei Gregor ist die Situation dahingehend verschärft, dass er tatsächlich körperlich nicht in der Lage ist, seiner Arbeit nachzukommen. Dies ist die Ausgangssituation, die Macht ist in ihm selbst, sie sorgt dafür, dass er zur Arbeit will. Hier tritt also auch eine krasse Spaltung zwischen dem Körper und dem Bewusstsein auf. Dabei ist es der Körper, auf den allein Macht einwirken kann. Und umgekehrt. Gregors Körper rebelliert, er stellt den Gehorsam ein. Deswegen verschieben sich aber auch die Machtverhältnisse im Haushalt Samsa. Der Vater kehrt zurück, er bekommt eine Anstellung, eine Uniform, er bekommt Anerkennung. Genauso die Schwester, die über die Erzählung hinweg zur jungen Frau wird. Der Vater schafft es angesichts der aufstrebenden Grete auch nicht, seine zuvor an Gregor abgetretene Machtposition wiederzuerlangen. Eher ist es Grete, die ein Machtmonopol erreicht. 

Machttheoretisch interessant könnte auch der Fakt sein, dass Gregors Zimmer drei Türen hat. Da das Zimmer auf einer Seite auch ein Fenster hat, heißt das, dass Gregors Zimmer nach allen Seiten hin offen, oder wenigstens zu öffnen ist. Während Gregor noch lebt, sind die Machtverhältnisse allerdings hochgradig fluid. Die drei Untermieter etwa werden vom Vater geradezu unterwürfig bedient. Nach Gregors Tod jedoch ergreift der Vater wieder das Recht des Hausherren und kündigt zunächst den Untermietern, um dann anzukündigen, auch der Bedienerin kündigen zu wollen.

Schließlich kann eine marxistische Interpretation des Textes durchgeführt werden. Diese könnte vor allem auf die Entfremdung Gregor Samsas von seiner Arbeit und in der Folge von seiner Existenz abzielen. Weil Gregor einer Arbeit nachgeht, die ihn nicht interessiert und die er nicht gewählt hat, ist er zutiefst von seiner Arbeit entfremdet. Aus marxistischer Sicht ist es nun aber so, dass der Mensch sich über seine Arbeit definiert. Arbeit ist hier aber nicht nur der Broterwerb, sondern Arbeit meint jeden Umgang mit der Welt, jeden Moment, in dem der Mensch etwas mit den Objekten um ihn tut. Wenn das durch übermäßige Lohnarbeit geschieht; wenn Menschen nur noch so mit der Welt umgehen, dann wirkt das auf die Menschen zurück. Diese Entfremdung ist letztlich eine Selbstentfremdung. 

Für die Berechtigung einer marxistischen Interpretation kann der Umstand sprechen, dass Gregor nur deswegen in sein Arbeitsverhältnis eintrat, weil der Vater verschuldet war. In einer marxistischen Perspektive ist da bereits das Problem des Kapitalismus zu sehen. Wer besitzt, der zahlt seine Schulden einfach ab. Wer aber nichts besitzt, der muss sich selbst, das heißt seine Arbeitskraft verkaufen. Das ist, was Lohnarbeit genannt wird. Ein Unternehmer – Gregors Chef – hat einen anderen Unternehmer – Gregors Vater – vom Markt verdrängt und zwingt nun dessen Nachkommen – Gregor – in die Lohnarbeit. Das Kapital strebt zum Monopol, auch und gerade auf dem Arbeitsmarkt. Heutzutage sind ausschließlich marxistische Analysen aber eher selten geworden. 

Veröffentlicht am 13. Januar 2023. Zuletzt aktualisiert am 13. Januar 2023.