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Mario und der Zauberer

Interpretation

Fiktion und Realität

Im Verlauf der Novelle verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen dem, was auf der Bühne passiert, und dem, was tatsächlich passiert, also zwischen Fiktion und Realität. Von Anfang an erinnert die Novelle daran, dass sie selbst auch nur eine Erzählung ist. Das passiert bereits im ersten Satz, als der Erzähler das Niedergeschriebene deutlich als »Erinnerung« deklariert, und wird fortgesetzt mit der ständigen Erwähnung des Wortes »Publikum« (Baker, 359). Das Wort scheint allgegenwärtig: Torre di Venere wird vom touristischen »Publikum« (S. 5) bevölkert, die italienischen Badegäste am Strand sind ein »Publikum« (S. 12) und auch die europäischen Gäste, die nach und nach eintreffen, werden als »Publikum« bezeichnet (S. 17).

Diese Tendenz, das Geschehen in der Novelle als fiktional zu deklarieren, setzt sich bei Cipollas Zaubershow fort. Diese findet nicht umsonst in einem alten Cinema-Saal, also einem Kinosaal statt; an keinem Ort können Realität und Fiktion besser miteinander verschmelzen. Der Erzähler, der bisher die Fiktion kreiert hatte, wird nun ebenfalls zum Zuschauer und stattdessen durch Cipolla ersetzt (ebd.). Es entsteht ein Mise en Abyme, ein Drama in der Novelle, eine Fiktion in der Fiktion. Was ist noch Teil der Zaubershow und was geschieht wirklich? Cipollas Darbietung kann allmählich nicht mehr von der Realität unterschieden werden. Der Zauberer scheint mit seinem Publikum zu verschmelzen. Er imitiert und parodiert sein Publikum, zum Beispiel als er den rebellischen Giovanotto parodiert, und nähert sich so den Zuschauern an. Umgekehrt scheinen die Zuschauer zu Cipolla zu werden, indem sie seine Gesten imitieren; der Erzähler ahmt beispielsweise mit den Lippen das Geräusch von Cipollas Reitpeitsche nach (ebd.). Publikum und Zauberer, Zuschauerraum und Bühne verschmelzen, und damit auch Fiktion und Realität. Schließlich bewahrheitet sich der Satz ganz vom Anfang der Novelle, als der Erzähler erleichtert feststellt, dass seine Kinder nicht unterscheiden konnten, was zu Cipollas Show gehörte und was nicht: »Gottlob haben sie nicht verstanden, wo das Spektakel aufhörte und die Katastrophe begann, und man hat sie in dem glücklichen Wahn gelassen, daß alles Theater gewesen sei.« (S. 3)

Der Erzähler und Cipolla

Wie bereits erwähnt, ahmt der Erzähler an einer Stelle während der Darbietung mit den Lippen das Geräusch von Cipollas Reitpeitsche nach: »Was uns betraf, so tauschten wir einen Blick, und ich erinnere mich, daß ich unwillkürlich mit den Lippen leise das Geräusch nachahmte, mit dem Cipolla seine Reitpeitsche hatte durch die Luft fahren lassen.« (S. 26). Diese Stelle ist nicht die einzige, an welcher der Erzähler und Cipolla eine schockierende Ähnlichkeit miteinander aufweisen; tatsächlich haben die beiden viel mehr miteinander gemeinsam, als man auf den ersten Blick vielleicht annehmen würde (Mommert, 19). Sie sind beide Künstler, der eine ein Zauberer, der andere ein Schriftsteller (vielleicht sogar Thomas Mann selbst). Sie beide beherrschen ihr Handwerk einwandfrei. Cipolla scheitert bei keinem seiner Tricks und der Erzähler der Novelle bedient sich eines gehobenen, meisterhaften Stils. Dieser ähnelt sehr dem Stil Gustav von Aschenbachs in Manns Novelle »Der Tod in Venedig«, der oft als »Meister-Stil« bezeichnet wird. Außerdem ist nicht nur der Autor ein Sprachkünstler, sondern auch Cipolla. 

An zahlreichen Stellen wird auch hervorgehoben, wie außerordentlich elegant und intelligent Cipolla spricht. Durch seine Reden gewinnt er die Sympathie des Publikums und bindet sie an sich. Er nutzt Sprache, wie der Erzähler feststellt, als ein »nationales Bindemittel«: »Unter Südländern ist die Sprache ein Ingredienz der Lebensfreude, dem man weit lebhaftere gesellschaftliche Schätzung entgegenbringt, als der Norden sie kennt. Es sind vorbildliche Ehren, in denen das nationale Bindemittel der Muttersprache bei diesen Völkern steht, und etwas heiter Vorbildliches hat die genußreiche Ehrfurcht, mit der man ihre Formen und Lautgesetze betreut.« (S. 28) Aufgrund Passagen wie dieser haben Kritiker häufig hervorgehoben, wie sehr sich die Akte der Erzählung in der Novelle und die der Hypnose Cipollas gleichen (Baker, 360). Sowohl Zauberer als auch Schriftsteller können mithilfe von Sprache und Hypnose ihr Publikum manipulieren und wissen genau, wie sie dafür vorgehen müssen. 

Diktator und Zauberer

Auch wenn Thomas Mann die politischen Implikationen von »Mario und der Zauberer« die ersten Jahre nach der Veröffentlichung seines Werks bestritt und ihm erst später eine politische Ebene zugestand (mehr dazu im Abschnitt »Rezeption und Kritik), wird die Novelle inzwischen allgemein als eine politische Parabel interpretiert, eine symbolische Repräsentation des italienischen Faschismus (Garland). Cipolla wird in dieser Interpretation zur Allegorie eines Diktators, insbesondere Mussolinis, der zur Zeit der Veröffentlichung der Novelle über Italien herrschte. Der Zauberer und der italienische Diktator weisen einige gemeinsame Eigenschaften auf (mehr dazu im Abschnitt »Figuren«), wie beispielsweise ihre clevere sprachliche Manipulation des Publikums, ihr Betrug und ihre sadistischen Methoden – Cipollas Reitpeitsche ist der Inbegriff von Gewalt, sein Fläschen, aus dem er konstant trinkt, der Inbegriff von Betrug. 

Auch Cipollas Hypnose-Tricks können als Symbol für seine diktatorischen Züge gesehen werden, insbesondere nachdem Freud in seiner 1921 veröffentlichten Studie »Massenpsychologie und Ich-Analyse« Parallelen zwischen der Kunst der Hypnose und den Methoden des Faschismus hergestellt hatte. Cipolla unterwirft sein Publikum: Er drängt ihnen seinen Willen auf, ohne dass jemand erfolgreichen Widerstand leistet oder auch nur leisten will. Denn mit cleveren Rechtfertigungen lässt Cipolla seine Manipulation als harmlos, ja sogar rechtmäßig erscheinen. Er behauptet, dass eigentlich kein Unterschied zwischen Befehlen und Gehorchen bestehe, und rechtfertigt damit seine totalitäre Herrschaft über die Zuschauer. Nur Giovanotto versucht, sich gegen ihn aufzulehnen, scheitert jedoch. Derjenige, der es letztendlich schaffen wird, das Publikum aus Cipollas hypnotischem Bann zu reißen, ist Mario, indem er den Zauberer erschießt. Sein Schuss wird als »befreiend« bezeichnet (S. 64) und damit könnte Mario für all diejenigen Italiener stehen, die von Mussolini unterdrückt worden sind (Meyers, 119). Ironischerweise ist es jedoch Mario, der Befreier, der am Ende mit einer Verhaftung bestraft wird, und nicht Cipolla. 

Veröffentlicht am 21. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 21. August 2023.