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Mario und der Zauberer

Zitate und Textstellen

  • »Die Erinnerung an Torre di Venere ist atmosphärisch unangenehm. Ärger, Gereiztheit, Überspannung lagen von Anfang an in der Luft, und zum Schluß kam dann der Choc mit diesem schrecklichen Cipolla, in dessen Person sich das eigentümlich Bösartige der Stimmung auf verhängnishafte und übrigens menschlich sehr eindrucksvolle Weise zu verkörpern und bedrohlich zusammenzudrängen schien.«
    – S. 3

    Hierbei handelt es sich um den Anfang der Novelle. Der erste Satz ist kurz und prägnant und deutet bereits auf einige wichtige Charakteristika der Geschichte hin: Es handelt sich um den Bericht eines Ereignisses, der auf der Basis einer Erinnerung verfasst worden ist; er ist dementsprechend sehr subjektiv. Der zweite Satz ist lang, durchzogen von gehobenen Formulierungen und damit in dem für Thomas Mann typischen Stil geschrieben. Beide Sätze deuten bereits auf den katastrophalen Ausgang der Novelle hin. Dazu tragen neben den primär vermittelten Informationen über Cipollas Bösartigkeit vor allem auch die vielen negativ behafteten Adjektive wie »unangenehm«, »verhängnishaft« und »bedrohlich« bei.

  • »Gottlob haben sie nicht verstanden, wo das Spektakel aufhörte und die Katastrophe begann, und man hat sie in dem glücklichen Wahn gelassen, daß alles Theater gewesen sei.«
    – S. 3

    Dieser Satz leitet den zweiten Paragraphen der Novelle ein und bezieht sich auf die Kinder des Erzählers: Er ist froh, dass sie das eigentliche Ausmaß der stattfindenden Tragödie nicht begriffen haben. Damit wird wie im vorherigen Zitat wieder auf den mysteriösen tragischen Ausgang der Novelle angespielt und die Neugier des Lesers geweckt: Was ist eigentlich passiert? Außerdem tritt bereits eine weitere Tendenz der Novelle hervor: das Vermischen von Theater und Realität, das bei der Zaubershow Cipollas seinen Höhepunkt erreichen wird.

  • »Er ließ auf sich warten, das ist wohl der richtige Ausdruck. Er erhöhte die Spannung durch die Verzögerung seines Auftretens.«
    – S. 20

    Cipollas Erscheinen auf der Bühne erfolgt spät – genau wie sein Erscheinen in der Novelle. Erst nach nahezu der Hälfte der Seitenzahl tritt der Zauberer endlich auf. Insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass er eine der beiden Titelfiguren ist, ist sein verzögertes Auftreten beachtlich. Als er dann endlich die Novelle / die Bühne betritt, wird sich beim Leser / Zuschauer schon eine beträchtliche Spannung aufgebaut haben. (Das Gleiche gilt auch für Mario, die andere Titelfigur.)

  • »Unter Südländern ist die Sprache ein Ingredienz der Lebensfreude, dem man weit lebhaftere gesellschaftliche Schätzung entgegenbringt, als der Norden sie kennt. Es sind vorbildliche Ehren, in denen das nationale Bindemittel der Muttersprache bei diesen Völkern steht, und etwas heiter Vorbildliches hat die genußreiche Ehrfurcht, mit der man ihre Formen und Lautgesetze betreut.«
    – S. 28

    Diese Feststellung macht der Erzähler kurz nach der Eröffnungsrede Cipollas bei seiner Abendshow. Cipolla hat sich soeben vorgestellt und wird nun in den Zuschauerreihen für seine exzellente Sprache gelobt. Wie der Erzähler feststellt, nutzt Cipolla Sprache also als Mittel, das Publikum für sich zu gewinnen, als eine Art »Bindemittel«. Auch später während der Show wird Cipolla immer wieder auf sprachliche Tricks und Manipulation zurückgreifen. Zu beachten ist an dieser Stelle ebenfalls, dass der Erzähler Sprache nicht einfach nur als Bindemittel, sondern als »nationales« Bindemittel bezeichnet. Sprache erhält damit nicht nur eine soziale, sondern auch eine politische Dimension.

  • »Und doch war klar, daß dieser Bucklige nicht zauberte, wenigstens nicht im Sinne der Geschicklichkeit, und daß dies gar nichts für Kinder war.«
    – S. 37

    Dies ist eine der zahlreichen Anspielungen auf die Bösartigkeit Cipollas und eine der ersten Passagen, in denen seine diktatorischen Züge hervortreten. Der Erzähler hat hier bereits erkannt, dass Cipolla nicht einfach nur einfache Tricks vollführt, sondern seine Zuschauer manipuliert und seinem Willen unterwirft. Er weiß auch, dass er mit seinen Kindern eigentlich nach Hause gehen sollte, entscheidet sich aber dagegen – was er später sehr bereuen wird.

  • »Eine gewisse Abneigung und Aufsässigkeit war durchzufühlen; aber von der Höflichkeit zu schweigen, die solche Regungen im Zaum hielt, verfehlten Cipollas Können, seine strenge Sicherheit nicht, Eindruck zu machen, und selbst die Reitpeitsche trug, meine ich, etwas dazu bei, daß die Revolte im Unterirdischen blieb.«
    – S. 38

    Cipolla schikaniert und entwürdigt große Teile seines Publikums und dennoch wendet es sich nicht gegen ihn. Der Zauberer hat seine Zuschauer komplett in seiner Macht – ganz wie ein Diktator sein Volk. Dies ist eine der zahlreichen Stellen, an denen Cipolla als faschistischer Herrscher und sein Publikum als Volk interpretiert werden kann, das seinen Diktator zwar als solchen erkennt, aber sich nicht gegen ihn auflehnt.

  • »›Die Freiheit existiert, und auch der Wille existiert; aber die Willensfreiheit existiert nicht, denn ein Wille, der sich auf seine Freiheit richtet, stößt ins Leere. Sie sind frei, zu ziehen oder nicht zu ziehen. Ziehen Sie aber, so werden Sie richtig ziehen, – desto sicherer, je eigensinniger Sie zu handeln versuchen.‹«
    – Cipolla zum jungen Mann, S. 39

    Als ein junger Mann behauptet, er könne sich gegen Cipollas Manipulation wehren, reagiert Cipolla mit diesen Sätzen. Er behauptet, dass Willensfreiheit nicht existiere und ist überzeugt, dass sein Zuschauer selbst dann die von Cipolla vorherbestimmte Karte ziehen werde, wenn er aktiv versuche, es nicht zu tun. Sieht man die Novelle nun als politische Parabel, dann wird der junge Mann in dieser Szene zum Widerständler und Cipolla wieder einmal zum faschistischen Herrscher.

  • »Die Rollen schienen vertauscht, der Strom ging in umgekehrter Richtung, und der Künstler wies in immer fließender Rede ausdrücklich darauf hin. Der leidende, empfangende, der ausführende Teil, dessen Wille ausgeschaltet war, und der einen stummen in der Luft liegenden Gemeinschaftswillen vollführte, war nun er, der solange gewollt und befohlen hatte; aber er betonte, daß es auf eins hinauslaufe.«
    – S. 41

    Cipolla tut in dieser Szene so, als begebe er sich von der Rolle des Befehlenden in die Rolle des Gehorchenden. Er lässt sich von einem Zuschauer durch den Raum führen und es scheint so, als seien die Rollen vertauscht; der Zuschauer befiehlt, Cipolla gehorcht. Dabei ist das eigentlich überhaupt nicht der Fall: Cipolla mag sich vielleicht durch den Raum führen lassen, aber er hatte zuvor den Zuschauer angewiesen, an das von ihnen »Verabredete« zu denken. Auch wenn er Gegenteiliges behauptet, befindet sich Cipolla also noch immer in einer Machtposition.

  • »Die Fähigkeit, sagte er, sich seiner selbst zu entäußern, zum Werkzeug zu werden, im unbedingtesten und vollkommensten Sinne zu gehorchen, sei nur die Kehrseite jener anderen, zu wollen und zu befehlen; es sei ein und dieselbe Fähigkeit; Befehlen und Gehorchen, sie bildeten zusammen nur ein Prinzip, eine unauflösliche Einheit; wer zu gehorchen wisse, der wisse auch zu befehlen, und ebenso umgekehrt; der eine Gedanke sei in dem anderen einbegriffen, wie Volk und Führer ineinander einbegriffen seien«
    – S. 42

    Cipolla versucht seinem Publikum zu vermitteln, dass im Grunde genommen kein Unterschied zwischen dem Befehlen und dem Gehorchen bestehe, beides bilde ein Prinzip. Es entsteht dadurch der Eindruck, Befehlender und Gehorchender seien gleichwertig. Zauberer und Publikum stehen dieser Logik zufolge auf einer Ebene, und das Gleiche gilt für Volk und Führer. Kurz: Diese Philosophie ist der ideale Weg für Cipolla, seinem Publikum zu schmeicheln und sich ihm als Gleichgestellten zu präsentieren. Dass er eigentlich mit Reitpeitsche vor ihnen steht und ihnen brutal seinen Willen aufzwingt, lässt sich dabei schnell vergessen.

  • »Ein Ende mit Schrecken, ein höchst fatales Ende. Und ein befreiendes Ende dennoch, – ich konnte und kann nicht umhin, es so zu empfinden!«
    – S. 64

    Hierbei handelt es sich um den letzten Satz der Geschichte. Der Erzähler drückt aus, wie befreit er sich durch die Ermordung Cipollas fühlt. Zwar trägt seine Novelle den Untertitel »Ein tragisches Reiseerlebnis«, aber eigentlich endet sie, wie er findet, eher befreiend. Gleichzeitig scheint er aufgrund dieses Gefühls allerdings Schuld zu empfinden. Kann er den Tod eines Menschen wirklich gutheißen? Und wird dieser Ausgang ihn wirklich von den schrecklichen Erlebnissen heilen, die er mitangesehen und nicht verhindert hat? Vor denen er nicht einmal geflohen ist, sondern sie durch seine Teilnahme unterstützt hat? Insbesondere die letzten Fragen lassen sich wieder auch politisch interpretieren: Der Erzähler befindet sich in der gleichen Situation wie all diejenigen, die den Faschismus miterlebt, aber nichts dagegen unternommen haben.

Veröffentlicht am 21. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 21. August 2023.