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Mario und der Zauberer

S. 3–16

Zusammenfassung

Der Erzähler der Geschichte denkt an einen Urlaub mit seiner Familie in Torre di Venere, Italien, zurück, der ihm in unangenehmer Erinnerung geblieben ist. Die Atmosphäre war die ganze Zeit über von Anspannung und Gereiztheit geprägt gewesen, und die Spannungen waren im Auftritt eines merkwürdigen, bedrohlichen Bühnenkünstlers und Zauberers namens Cipolla gegipfelt. Im Nachhinein betrachtet der Erzähler den Verlauf der Ereignisse als vorhersehbar und unabwendbar, und er ist froh, dass wenigstens seine Kinder nichts von dem Unglück mitbekommen haben, das sich später ereignet hatte: Sie konnten die eigentliche Katastrophe nicht vom Spektakel des Theaters unterscheiden.

Torre liegt ca. 15 Kilometer von Portoclemente entfernt, einem sehr belebten und häufig überfüllten Urlaubsort am Tyrrhenischen Meer. Torre selbst liegt etwas abseits und hatte daher für einige Jahre als »stillere Konkurrenz« (S.3) von Portoclemente und als Idyll für all diejenigen gegolten, die ihren Urlaub etwas zurückgezogener und friedvoller verbringen wollten. In der letzten Zeit aber hat sich auch Torre des Touristenstroms nicht mehr erwehren können, gilt aber noch immer als ein wenig beschaulicher und bescheidener als das trubelige Portoclemente.

Dort trifft der Erzähler mit seiner Familie Mitte August ein. Ein wenig zu früh, wie er findet, weil sich in dieser Zeit noch mehr italienische als internationale Touristen in Torre aufhalten. Es herrscht Gedränge in den Cafés auf der Strandpromenade. Die Musikkapellen unterbrechen sich gegenseitig und man findet kaum einen Tisch. Am Nachmittag kommen dann auch noch die vielen Ausflügler aus Portoclemente hinzu. Viel besser ist es für ausländische Touristen, im Mai oder September nach Torre zu gehen. Die Temperaturen sind niedriger, und außerdem fühlt man sich als Fremder nicht ganz so isoliert.
Auch die Familie des Erzählers fühlt sich ausgeschlossen von den einheimischen Touristen. Eine erste solche Erfahrung machen sie bereits am Abend ihrer Ankunft im Speisesaal ihrer Pension, wo ihnen ein Tisch auf der schönen Veranda mit Meerblick verwehrt wird, da diese »ai nostri clienti«, »unserer Kundschaft«, vorbehalten sei – damit sind die einheimischen italienischen Hotelgäste gemeint.

Im Nachbarzimmer wohnen Angehörige des römischen Hochadels, eine Familie, die nachts das Husten eines der Kinder des Erzählers gehört haben will. Da die adelige Mutter dem weit verbreiteten Irrglauben erliegt, die Krankheit Keuchhusten sei akustisch übertragbar, sorgt sie sich um die Gesundheit ihrer eigenen Kinder und meldet den Fall der Hoteldirektion, die daraufhin einen Arzt bestellt, der das Kind des Erzählers untersuchen soll. Doch obwohl der Arzt das Kind für nicht ansteckend erklärt, soll die Familie nun in einem Nebenbau des Hotels untergebracht werden. Sie sind empört und beschließen, in die Pension Eleonora umzuziehen, die ihnen ohnehin sympathischer erscheint.

Hier werden sie zwar merklich freundlicher behandelt und treffen auch auf ein paar Bekannte aus Wien, fühlen sich aber trotzdem auch hier nicht ganz wohl. Das Klientel besteht überwiegend aus Angehörigen der italienischen Mittelklasse, welche der Erzähler zwar zunächst als angenehm wahrnimmt, sie jedoch auf Dauer dann unerträglich findet. Er stört sich an der Lautstärke und den Stimmen der Italiener und an einem theatralischen kleinen Jungen, der den ganzen Strand in Aufruhr versetzt, nur weil ihn ein Taschenkrebs gekniffen hat. Zunächst weiß der Erzähler nicht, was genau es ist, das ihn an der allgemeinen Atmosphäre stört. Bald aber wird ihm klar, dass es der von den Italienern ausgehende Stolz auf die eigene Nation und die Ablehnung alles Fremden ist. Sogar die Kinder verhalten sich patriotisch.

Es kommt zu einem Vorfall, mit dem die Familie gegen die öffentliche Moral verstößt. Die Eltern erlauben ihrer achtjährigen Tochter, nackt zum Strandufer zu gehen und dort ihren Badeanzug auszuwaschen. Die anderen Badegäste reagieren mit Empörung, Entsetzen und Hohn. Ein Herr erklärt ihnen sogar, ihre Schamlosigkeit komme einem »dankvergessenen und beleidigenden Mißbrauch der Gastfreundschaft Italiens« (S. 14) gleich; sie hätten die nationale Würde Italiens verletzt. Obwohl die Familie sich entschuldigt und beschwichtigend auf das junge Alter ihrer Tochter hinweist, muss sie ein Bußgeld zahlen. Rückblickend bereut der Erzähler, dass sie nicht zu diesem Zeitpunkt abgereist sind. So hätten sie die Begegnung mit Cipolla vermeiden können. Aber aus Trotz und aus Bequemlichkeit bleiben sie.

Analyse

Die Novelle wird von einer dominanten Erzählstimme vorgetragen und ist sehr von der Sichtweise dieser Stimme auf die Geschehnisse geprägt. Die Figur des Erzählers stammt aus Deutschland, ist der Vater von zwei Kindern und reist mit seiner Familie Mitte August nach Italien. In seinem Reisebericht ist er keineswegs zurückhaltend, sondern bringt klar und deutlich seine eigenen Emotionen und Meinungen zum Ausdruck. Außerdem macht er kein Geheimnis daraus, dass er seine Geschichte lediglich rückblickend erzählt, indem er von einem späteren Zeitpunkt auf eine Episode aus seiner Vergangenheit zurückschaut: An vielen Stellen greift der Erzähler der eigentlichen Handlung vorweg, indem er geheimnisvolle Anspielungen auf spätere Ereignisse und den Ausgang der Novelle einstreut.

Bereits der Untertitel »Ein tragisches Reiseerlebnis« ist eine Anspielung auf den nahezu katastrophalen Ausgang der Geschichte. Auch der erste Satz deutet den unglücklichen Verlauf der Novelle an: »Die Erinnerung an Torre di Venere ist atmosphärisch unangenehm.« (S. 1) Hier ist es wichtig zu beachten, dass es nicht Torre di Venere oder die Atmosphäre der Stadt selbst ist, die der Erzähler als unangenehm bezeichnet, sondern seine Erinnerung daran. Die Novelle ist dementsprechend schon vom ersten Wort an geprägt von den Emotionen des Erzählers und seiner rückblickenden Einschätzung des Erlebten.

Die Anspielungen ziehen sich fort. Der Erzähler bezeichnet das Ende der Geschichte als »vorgezeichnet« und »im Wesen der Dinge liegend« (S. 1) und weist auf den folgenden Seiten mehrfach auf Figuren hin, die erst später auftauchen werden. Er erwähnt einen Kellner namens Mario, von dem er dann gleich erzählen werde (S. 5), und einen Cipolla, »in dessen Person sich das eigentümlich Bösartige der Stimmung auf verhängnishafte und übrigens menschlich sehr eindrucksvolle Weise zu verkörpern und bedrohlich zusammenzudrängen schien« (S. 1) und den sie hätten vermeiden können, wären sie doch nur abgereist (S. 15).

Der Erzähler stellt sich dem Leser gegenüber als differenzierten und gewissenhaften Reporter der Ereignisse dar. Er analysiert seine Mitmenschen ausgiebig, ebenso die Szenarien, von denen er berichtet. Auch sich selbst und seine Gedankengänge schildert er detailliert und scheinbar sehr transparent. Er ist sogar dazu bereit, Kritik an seinem eigenen Handeln zu äußern, beispielsweise als er seine unangenehme Wahrnehmung der extremen Hitze in Torre beschreibt und zugibt: »Sie haben recht, ohne das dumme Geschichtchen mit dem Keuchhusten hätte ich es wohl nicht so empfunden; ich war gereizt, ich wollte es vielleicht empfinden und griff halb unbewußt ein bereitliegendes geistiges Motiv auf, um die Empfindung damit wenn nicht zu erzeugen, so doch zu legitimieren und zu verstärken.« (S. 10)

Auf den ersten Blick mag der Erzähler daher aufrichtig, differenziert und selbstkritisch wirken. Allerdings ist Vorsicht geboten: Eine Stimme, die so dominant ihre eigene Erzählung beeinflusst, könnte auch schnell unzuverlässig werden. Immerhin ist unsere einzige Quelle für die Ereignisse die Erinnerung des Erzählers und seine wahrscheinlich sehr selektive und subjektive Darstellung dieser. Bei der Analyse der Novelle betonen Literaturwissenschaftler oft, dass ihr Erzähler versucht, seine eigenen Erinnerungen zu verarbeiten (Bance). Seine Erzählung garantiert keineswegs Vollständigkeit und Objektivität.

Weiterhin erscheint in diesem Abschnitt bereits eines der wichtigsten Themen der Novelle: kulturelle Differenzen. Der Erzähler und seine Familie fühlen sich ganz offenbar isoliert von den einheimischen Touristen; von ihrem ersten Abend an, an dem ihnen der gewünschte Tisch im Speisesaal verweigert wird, liegt eine unsichtbare Barriere zwischen Italienern und Fremden. Diese wird immer schwerer zu überbrücken, je weiter die Novelle voranschreitet, und auch immer schwerer zu leugnen. Mit den patriotischen Kindern am Strand der Pension Eleonora erreicht der kulturelle Konflikt dann einen Höhepunkt: »Man verstand bald, daß Politisches umging, die Idee der Nation im Spiele war. Tatsächlich wimmelte es am Strande von patriotischen Kindern, – eine unnatürliche und niederschlagende Erscheinung.« (S. 12)

Die Spannungen gipfeln in dem Skandal, der durch die Nacktheit der Tochter des Erzählers ausgelöst wird. Hier werden die kulturellen Differenzen auch zum ersten Mal von Figuren in der Novelle formuliert: Der Herr mit dem Frack (»Schniepel«) und Melonenhut behauptet, die deutsche Familie habe die nationale Würde verletzt. Die Italiener werden in dieser Szene als stolz, fremdenfeindlich und patriotisch skizziert. Beachtet werden sollte aber zugleich, dass auch die Familie des Erzählers einen gewissen Stolz empfindet, der schon fast in die Verachtung anderer Kulturen übergeht. Über die extreme Hitze in Torre sagt der Erzähler: »ohne daß man sich anfangs Rechenschaft davon gäbe, läßt sie tiefere, uneinfachere Bedürfnisse der nordischen Seele auf verödende Weise unbefriedigt und flößt auf die Dauer etwas wie Verachtung ein.« (S. 10)

Somit herrscht von Anfang an ein Klima der Feindlichkeit und Spannung, das sich im Laufe der Geschichte nur zuspitzen kann und das unweigerlich irgendwann implodieren muss. Wie der Erzähler selbst es ausdrückt: Das Ende der Geschichte ist »vorgezeichnet« und liegt »im Wesen der Dinge«.

Veröffentlicht am 21. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 21. August 2023.