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Mario und der Zauberer

S. 40–52

Zusammenfassung

Cipolla geht nun von den Kartenkunststücken zu Gesellschaftsspielen über, die auf Intuition und anderen übernatürlichen Fähigkeiten beruhen. Dazu gehören viele verschiedene Spiele, unter anderem eines, bei dem sich Cipolla an der Hand eines Zuschauers scheinbar blind durch den Raum führen lässt, wobei er ihn anweist, an das zwischen ihnen Verabredete zu denken. Bei diesem Spiel mögen zunächst die Rollen vertauscht scheinen: Cipolla, der zuvor befohlen hat, befolgt nun Befehle. Der Zauberer aber betont, dass es auf das Gleiche hinauslaufe.

Er scheint sicher, dass er sein Ziel auch an der Hand des Zuschauers erreichen wird. Denn Befehlen und Gehorchen seien lediglich zwei Kehrseiten voneinander, sie bildeten zusammen »nur ein Prinzip, eine auflösliche Einheit.« (S. 42) Wer zu befehlen wisse, wisse auch zu gehorchen. Nur sei das Befehlen, also die Aufgabe des Führers, deutlich anstrengender und schwerer. Insbesondere Letzteres wird Cipolla nicht müde zu betonen, und der Erzähler vermutet, dass er damit seinen hohen Alkoholkonsum während der Show rechtfertigen will.

Außerdem versucht sich Cipolla mehrfach an Wahrsagungen über einzelne Zuschauer aus seinem Publikum. Beispielsweise weiß er von Frau Angiolieris Freundschaft zur weltberühmten Künstlerin Eleonora Duse in ihrer Jugend. Das ist zwar ein offenes Geheimnis und fast jeder im Saal ist damit vertraut, dennoch ist das Publikum begeistert. Nur der Erzähler bleibt skeptisch.

Nun gibt es eine kurze Showpause, in welcher der Erzähler seine Kinder aufs Hotelzimmer bringen könnte, sich aber nicht dazu durchringen kann. Seine Kinder, die zwar schon während der Vorstellung eingeschlafen sind, betteln ihn an, bleiben zu dürfen. Sie wollen die Vorstellung nicht vorzeitig verlassen. Auch wenn der Erzähler weiß, dass es falsch ist, dem kindlichen Widerstand nachzugeben, tut er es dennoch. Faszination und Neugier auf die weiteren Tricks spielten bei dieser Entscheidung, überlegt der Erzähler rückblickend, wahrscheinlich auch eine Rolle. Vor allem aber vermutet er hinter der Frage, warum sie bei der Show geblieben sind, die gleiche Antwort wie auf die Frage, warum sie nicht aus Torre abgereist sind: Diese Show erscheint ihnen wie der Kulminationspunkt all der Merkwürdigkeiten, die sie in Torre erlebt haben, und diese Merkwürdigkeiten schaffen es immer wieder, die Familie zum Bleiben zu bewegen.

Cipolla beginnt die zweite Hälfte seiner Show, in der er nun Zuschauer hypnotisiert. Der Erzähler behauptet sogar, Cipolla sei der stärkste Hypnotiseur, der ihm in seinem Leben untergekommen sei. Einen jungen Mann beispielsweise spannt er wie ein Brett über zwei Stühle und hockt sich, ohne dass dessen Körper nachgibt, auf seinen Leib. Das Publikum bemitleidet den armen jungen Mann, aber Cipolla behauptet steif und fest, er sei derjenige, der leide. Einer älteren Dame vermittelt er die Illusion, sie befände sich auf dem Weg nach Indien. Und Frau Angiolieri bringt er dazu, ihm durch den Saal zu folgen. Ihrem ebenfalls anwesenden Gatten hatte er vorher aufgetragen, immer wieder den Namen seiner Frau zu rufen, um sie davon abzuhalten, sich zu bewegen, aber Herrn Angiolieris Rufe helfen nichts: Frau Angiolieri schwebt mit ausgestreckten Armen Cipolla hinterher. Der Erzähler ist sich sicher, dass sie ihm bis ans Ende der Welt gefolgt wäre. Cipolla bringt Frau Angiolieri zu ihrem schockierten Gatten zurück und geht anschließend dazu über, den gleichen Jüngling, den er vorhin zum Brett hatte werden lassen, auf der Bühne einen ekstatischen Tanz vollführen zu lassen. Diesem Jüngling, stellt der Erzähler fest, scheine es regelrecht zu gefallen, seine Selbstbestimmung aufzugeben.

Analyse

Bis zu diesem Punkt war Cipolla immer derjenige, der die Befehle erteilte. Jetzt aber vertauscht er die Rollen. Nun ist es der Zauberkünstler selbst, der sich »an der Hand eines wissenden Führers« durch den Saal leiten lässt: »Die Rollen schienen vertauscht, der Strom ging in umgekehrter Richtung, und der Künstler wies in immer fließender Rede ausdrücklich darauf hin.« (S. 41) Das Verhältnis von Führendem und Geführtem scheint komplett umgekehrt worden zu sein. Paradoxerweise aber verrät bereits der nächste Satzteil, dass dem eigentlich gar nicht so ist. Cipolla hat seinen Führer »angewiesen«, sich »körperlich rein folgsam« zu verhalten (S. 41). Damit ist der Rollentausch eigentlich bereits wieder aufgehoben, bevor er überhaupt beginnen konnte. Cipolla hat seine Machtposition keineswegs aufgegeben.

Cipollas Philosophie lautet, dass zwischen Befehlen und Gehorchen gar kein so großer Unterschied liege. Die Fähigkeit zu gehorchen sei nur die Kehrseite der Fähigkeit zu wollen und zu befehlen. Eigentlich sei beides ein und dieselbe Fähigkeit. Befehlen und Gehorchen bildeten zusammen »ein Prinzip, eine unauflösliche Einheit«, und wer das eine könne, sei auch zum anderen in der Lage (S. 42). Mit dieser Erklärung versucht Cipolla, seinem Publikum den Eindruck zu vermitteln, dass Befehlende und Gehorchende eigentlich auf einer Ebene stünden, vor allem dann, wenn beide Parteien das gleiche Ziel im Sinn haben. So kommt es auch, dass Cipolla sicher ist, sein Ziel im Saal zu erreichen, ganz gleich, ob er der Führende oder der Gehorchende ist.

Was Cipolla hierbei aber unterschlägt, ist, dass er selbst in seiner Rolle als Gehorchender noch immer immensen Einfluss auf seinen auserwählten »wissenden Führer« ausübt. Als er am Arm dieses Führers durch den Saal geht, heißt es: »Er tappte seherisch umher, geleitet und getragen vom öffentlichen, geheimen Willen.« (S. 42) Damit ergibt sich ein Paradox: Wie kann Cipolla seherisch sein, wenn er sich doch eigentlich von einem fremden Willen leiten lassen soll? Die einzige Erklärung ist, dass er sich gar nicht wirklich in die Rolle als Gehorchender begeben, sondern insgeheim weiterhin die Kontrolle behalten hat.

Vor dem Hintergrund, dass Cipolla vom Großteil der Literaturwissenschaft als Symbolfigur für einen Diktator gesehen wird, scheint sein Verhalten höchst problematisch und nimmt diktatorische Züge an. In diesem Sinne behauptet Cipolla, als Zauberer (bzw. Diktator), den Willen seines Publikums (bzw. Volkes) ernst zu nehmen, zwängt ihnen jedoch eigentlich wieder seinen eigenen auf, ohne dass sie es merken. Er behauptet, sich nach ihnen zu richten, aber in Wahrheit richten sie sich nach ihm.

Mit Cipollas zunehmend diktatorischem Verhalten mehren sich auch die Hinweise des Erzählers auf die Bedrohlichkeit des Zauberers und Anspielungen auf den schrecklichen Ausgang seiner Geschichte. Als er bereut er, dass er die Vorstellung nicht in der Pause verlassen hat, schreibt er beispielsweise: »Zu entschuldigen ist es nicht, daß wir blieben, und es zu erklären fast ebenso schwer.« (S. 54) Diese Entscheidung zu bleiben, die der Erzähler so sehr bereut, wird als fataler Wendepunkt in der Geschichte dargestellt. Denn nach der Pause beginnt der Teil seines Berichts, vor dem der Erzähler sich seit Beginn seiner Aufzeichnungen gefürchtet habe (S. 45). Dem Leser wird auf diese Weise vermittelt, dass sich die Katastrophe, von der bereits seit dem ersten Satz auf der ersten Seite die Rede ist, sich bald ereignen wird. Die Situation spitzt sich zu, und das in Synchronität mit der immer deutlicher hervortretenden diktatorischen Natur Cipollas.

Veröffentlicht am 21. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 21. August 2023.