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Mario und der Zauberer

S. 52–64

Zusammenfassung

Ein Herr aus Rom (derselbe, der vorher versucht hatte, Cipollas Kartentricks zu vereiteln) meldet sich und fragt, ob Cipolla ihn das Tanzen lehren werde, obwohl er nicht wolle. Und Cipolla versucht es: Er schlägt mit der Peitsche, ruft »Balla«, aber der junge Mann schafft es, Widerstand zu leisten. Nur seine Gelenke zucken ein wenig, und das eine beträchtliche Zeit lang. Cipolla beginnt zusätzlich, auf den jungen Mann einzureden und ihm seinen Widerstand und seine aufrechterhaltene Freiheit als »Vergewaltigung« (S. 54) seines Selbst auszulegen. Außerdem versucht er, ihn zum Nachgeben zu bringen, indem er ihm in Aussicht stellt, wie angenehm es doch sein werde, endlich den Widerstand aufzugeben und einfach zu tanzen. Und genau das passiert auch: Der junge Mann tanzt über die Bühne, vergnügt und mit lächelndem Gesicht.

Cipollas Macht hat nun ihren Höhepunkt erreicht. Nicht nur tanzen auf der Bühne bald acht bis zehn Personen, sondern auch große Teile des Saals haben sich angeschlossen. Cipolla sitzt derweil gelassen in einem Strohstuhl und lässt gelegentlich seine Peitsche sausen. Auch die Kinder des Erzählers folgen dem Geschehen begeistert. Dann winkt Cipolla Mario, dem jungen Kellner, den die Familie bereits kennengelernt hat und der den Kindern immer Schokolade bringt. Bisher hat er sich sehr ruhig verhalten und lediglich zugeschaut, nun folgt er Cipollas Aufruf und betritt die Bühne, wobei er lediglich ganz kurz zögert.

Der Erzähler weiß zwar nicht viel Persönliches über Mario, aber er ist ihm aufgrund seiner schwermütigen, träumerischen und vor allem authentischen Art sehr sympathisch. Cipolla begrüßt Mario mit dem Handzeichen des »römischen Grußes« (S. 59) und lässt ihn mit dem Gesicht zum Publikum neben seinem Strohstuhl stehen, während er ihm ein paar persönliche Fragen stellt und in der für ihn typischen Art des Wahrsagers Vermutungen über ihn anstellt, unter anderem dass Mario Liebeskummer habe.

Mario will daraufhin die Bühne verlassen, aber Cipolla hält ihn zurück. Er behauptet, er könne den jungen Mann von der Grundlosigkeit seines Kummers überzeugen. Es sei unwahrscheinlich, wenn nicht gar unmöglich, dass Silvestra, in die Mario verliebt ist, jemand anderem den Vorzug vor einem so sympathischen Burschen wie Mario geben werde. Während er spricht, begibt sich Cipolla schleichend in die Rolle Silvestras. Seine Rede endet damit, dass er Mario fragt: »Mario, mein Liebster … Sage mir, wer bin ich?« (S. 62)

Mario erliegt der Illusion und glaubt tatsächlich, nicht Cipolla, sondern Silvestra säße vor ihm. Als Cipolla ihn in der Rolle Silvestras zum Kuss auffordert, kommt er der Bitte daher nach und küsst den Zauberer. Kurz darauf lässt Cipolla die Reitpeitsche sausen und Mario realisiert entsetzt, was soeben geschehen ist. Er stürzt von der Bühne, dreht sich schlagartig um und erschießt Cipolla. Im Saal bricht Tumult aus, Mario wird entwaffnet und der Erzähler nimmt nun endlich die Kinder nach Hause. Er fühlt sich befreit.

Analyse

Den ganzen Abend über bedient sich Cipolla abgesehen von seiner Willenskraft und Sprache eigentlich nur zweier Requisiten, die beide einen symbolischen Wert besitzen. Die eine davon ist das Fläschchen, gefüllt mit alkoholischer Substanz, aus dem er immer wieder trinkt, und das laut Erzähler dazu dient, »seiner Dämonie einzuheizen, da sonst, wie es schien, Erschöpfung gedroht hätte« (S. 48). Die andere ist die Reitpeitsche, ein Symbol von Cipollas Herrschaft, »unter die seine Anmaßung uns alle stellte, und deren Mitwirkung weichere Empfindungen als die einer verwunderten und und vertrotzten Unterwerfung nicht aufkommen ließ.« (S. 48)

Jedes Mal, wenn Cipolla seine Peitsche sausen lässt, tut er es, um sich Autorität zu verschaffen. Seine Peitschenschläge sind ein unausgesprochener Befehl, ein Verlangen nach Gehorsam. Das wird auch in diesem Abschnitt wieder deutlich, insbesondere dann, als Cipolla den Widerstand des jungen Mannes brechen will, der glaubt, sich seiner Macht entziehen zu können. Die für einen Zauberkünstler ohnehin ungewöhnliche Peitsche – müsste er nicht eigentlich stattdessen einen Zauberstab besitzen? – wird damit zum Instrument eines Diktators und der junge Mann zum Widerständler in Cipollas diktatorischem Regime.

»Niemand verkannte, daß hier ein vorgefaßter Entschluß zum entschiedenen Widerstande, eine heroische Hartnäckigkeit zu besiegen waren; dieser Brave wollte die Ehre des Menschengeschlechtes heraushauen« (S. 53), heißt es. Dem jungen Mann wird Heroentum zugeschrieben und eine Ambition, das Menschengeschlecht zu retten, wie es sonst für Menschen gilt, die ihr Volk von einem tyrannischen Herrscher befreien wollen. Da der Zauberkünstler aber über den jungen Mann siegt und dieser seinem Willen erliegt, erreicht Cipollas Macht hier ihren Höhepunkt: »Man kann sagen, daß sein »Fall« Epoche machte. Mit ihm war das Eis gebrochen, Cipollas Triumph auf seiner Höhe; der Stab der Kirke, diese pfeifende Ledergerte mit Klauengriff, herrschte unumschränkt.« (S. 55) Eine neue historische »Epoche« hat begonnen; nun hat er Cipolla, der Zauberer und Diktator, sein Publikum und Volk uneingeschränkt unter Kontrolle und kann sich herausnehmen, was immer er will.

Und genau das wird er auch tun: Bisher hat Cipolla seine Zuschauer zwar auf der Bühne entwürdigt, aber dabei immer noch gewisse Grenzen eingehalten. Manche mussten vor aller Augen lächerliche Tänze aufführen, andere verspottete er mit Kartentricks. Sein Eingriff in die Privatsphäre und Emotionen Marios hingegen überschreitet all diese Grenzen. Das merkt auch der Erzähler: »Es wird mir schwer, es zu sagen, wie es mir schwer wurde, es zu sehen, denn das war eine Preisgabe des Innigsten, die öffentliche Ausstellung verzagter und wahnhaft beseligter Leidenschaft.« (S. 62) Cipolla übt nicht mehr nur Einfluss auf die Handlungen seiner Untergebenen auf, sondern dringt nun bis in ihre Identität vor.

Mit cleverer Rhetorik gaukelt er Mario vor, seine Geliebte Silvestra zu sein. Er nimmt diese Rolle nur schleichend ein, wechselt zunächst die Sprechperspektive, dann die Pronomen, dann auch sein Verhalten: »Es war greulich, wie der Betrüger sich lieblich machte, die schiefen Schultern kokett verdrehte, die Beutelaugen schmachten ließ und in süßlichem Lächeln seine splittrigen Zähne zeigte.« (S. 62) Diese schleichende Einflussnahme auf Marios Psyche spiegelt Cipollas gesamtes Verhalten den ganzen Abend über wider. Er unterwirft sein Publikum nicht von einer Sekunde auf die andere mit einem Peitschenschlag, sondern nach und nach – ganz so, wie es ein sich langsam an die Macht arbeitender Diktator tun würde.

Das Ende des Abends ist zugleich schockierend und erwartet. Einerseits überrascht die plötzliche brutale Wendung, andererseits ist sie bereits durch mehrere Anspielungen des Erzählers angekündigt worden. Mario erschießt Cipolla und wird damit zum Befreier des hypnotisierten Publikums. Steht er damit vielleicht stellvertretend für alle von Mussolini hypnotisierten Italiener (Meyers, 119)? Marios Leben ist geprägt von Gehorsam; als Kellner und auch jetzt als Zuschauer muss er stets Befehle ausüben. Nun hat er sich endlich befreit, wie auch der Erzähler im letzten Satz feststellt: »Ein Ende mit Schrecken, ein höchst fatales Ende. Und ein befreiendes Ende dennoch, – ich konnte und kann nicht umhin, es so zu empfinden!« (S. 64) Ironischerweise allerdings ist es Mario, der Befreier, der für die Befreiung mit seiner Verhaftung zahlen muss.

Der Erzähler scheint Schuldgefühle zu haben, weil er Cipollas Ermordung als Befreiung empfindet. Diese Gefühle sind zweierlei Art: Einerseits handelt es sich um das Schuldgefühl eines Humanisten, der einen Mord gutheißt (wenngleich es sich bei dem Ermordeten um jemand handelt, der Menschenwürde und -rechte verachtete). Andererseits ist es das Schuldempfinden eines Intellektuellen, der sich gedanklich in dunkle Gefilde begeben hat und dem bewusst ist, dass er diese Erfahrungen zwar schriftlich in einer Novelle verarbeiten, aber niemals ganz von ihnen geheilt werden kann.

Veröffentlicht am 21. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 21. August 2023.