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Mario und der Zauberer

S. 16–28

Zusammenfassung

Die Familie hat sich, nicht zuletzt aus Neugier über die Merkwürdigkeit ihres Urlaubsortes, zum Bleiben entschieden. In den Tagen nach dem Vorfall am Strand herrscht großer Betrieb: Die italienischen Urlauber reisen ab und das Publikum wird, was die Herkunftsnationen betrifft, deutlich vielfältiger. Auch die pralle Sonne hat sich zurückgezogen; stattdessen ist der Himmel bedeckt, von Zeit zu Zeit gibt es Regen und eine dichte Schwüle hat sich ausgebreitet.
Inzwischen sind für die Familie schon zwei Drittel der Dauer des geplanten Aufenthalts verstrichen. Zu diesem Zeitpunkt hören sie nun auch zum ersten Mal von besagtem Cipolla, den der Erzähler bereits am Anfang der Novelle erwähnt hat. Cipolla ist ein Zauberkünstler, »ein fahrender Virtuose, ein Unterhaltungskünstler, Forzatore, Illusionista und Prestidigitatore« (S. 17). Die Kinder des Erzählers sind begeistert, da sie noch nie einem Zauberkünstler zugeschaut haben, und wollen unbedingt an der Show teilnehmen, die am letzten Abend ihres Aufenthalts stattfinden soll. Die Eltern stimmen zu, nicht zuletzt, weil sie auch selbst ein wenig neugierig geworden sind.

Die Performance soll in einem alten Saalbau stattfinden, der in der Hochsaison wöchentlich wechselnden Filmvorstellungen gedient hat. Die Kinder sind aufgeregt, und der Saal ist bereits gut gefüllt. Auf den Stehplätzen befinden sich vor allem junge Fischer, von denen die Familie schon einige von ihren Spaziergängen am Strand kennt und mit denen die Kinder bereits Freundschaft geschlossen haben. Unter diesen ist auch ein Mario, der den Kleinen immer Schokolade bringt, wenn er sie sieht. Er bemerkt sie aber diesmal nicht.

Cipolla lässt lange auf sich warten, und das Publikum wird ungeduldig. Eine halbe Stunde nach geplantem Vorstellungsbeginn beginnt es erwartungsvoll zu klatschen und zu rufen, und endlich öffnet sich auch der Vorhang. Cipollas Alter ist schwer einzuschätzen, sein Gesicht zerrüttet und seine Augen stechend. Er ist in eine Art von »komplizierter Abendstraßeneleganz« (S. 22) gekleidet. Seine Kleidung erinnert an die eines Scharlatans aus dem 18. Jahrhundert und vermittelt damit den Eindruck »reklamehafter und phantastischer Narretei« (S. 22). Seine Haltung hingegen strahlt nichts als Ernsthaftigkeit und Würde aus. Er entzündet eine Zigarette und mustert sein Publikum prüfend – dieses schaut ebenso prüfend zurück.

Der erste Trick Cipollas besteht darin, einen Zuschauer zu manipulieren. Ein junger Mann aus dem Publikum, Giovanotto, verhält sich vorlaut, und der Zauberer bringt ihn daraufhin dazu, dem Publikum die Zunge herauszustrecken, obwohl Giovanotto kurz zuvor noch behauptet hatte, er wolle und werde genau das nicht tun. Es zeuge von schlechter Erziehung. Aber Cipolla schlägt einmal mit seiner Reitpeitsche auf den Bühnenboden, sagt »Uno«, und der junge Mann gehorcht. Das Publikum, das den Sinneswandel des jungen Mannes nicht ganz nachvollziehen kann, wendet sich verächtlich von ihm ab und konzentriert sich stattdessen auf Cipolla, der nun, nachdem er noch ein wenig über Giovanotto gestichelt hat, von seinen mondänen Erfolgen zu sprechen beginnt.

Nach seiner kleinen Eröffnungsrede macht sich Cipolla bereit für die eigentliche Vorstellung. Das Publikum ist jetzt schon begeistert von ihm, man lobt seine vorzügliche Rhetorik. Das habe im Süden mehr zu sagen als im Norden, stellt der Erzähler fest, da hier in Italien die Muttersprache als eine Art nationales Bindemittel gesehen würde. Mit Sprache verschaffe man sich Anerkennung, und anhand von Sprache werde man beurteilt. Auf diese Weise habe Cipolla, der eigentlich nach moralischen und ästhetischen Kriterien nicht besonders sympathisch erschienen sei, das Publikum dennoch bereits nach wenigen Minuten für sich eingenommen.

Analyse

Die Stimmung im Urlaubsort beginnt, sich zu verändern; es ist spürbar, dass sich ein Unheil ankündigt. Zu dieser Entwicklung tragen einerseits die bereits im vorherigen Abschnitt geschehenen Vorfälle bei, andererseits aber auch einige subtilere Motive, die sich im Laufe des Textes aufbauen. Eines davon ist das Wetter. Zu Anfang hatte der Erzähler die pralle Sonne und den leeren Himmel bemängelt, nun sind Wolken aufgezogen, begleitet von Regen. Derartige Wetterphänomene erzielen einen unheilverkündenden Effekt. Noch dazu macht sich eine »stickige Sciroccoschwüle« (S. 17) breit, ohne dass es auch nur das kleinste bisschen kühler wird. Die Hitze staut sich also an, und daraufhin müsste natürlich bald ein Unwetter folgen, welches die angesammelte Schwüle auflöst. Der Leser erwartet also nun nicht mehr nur das Erscheinen Cipollas, sondern auch das Aufziehen eines Gewitters. Aufgrund seiner Assoziation mit diesem Gewitter erhält Cipolla eine noch bedrohlichere Wirkung.

Generell sorgt der Erzähler auch in diesem Abschnitt wieder dafür, dass sich reichlich Spannung aufbaut. Cipollas Auftritt wird so weit verzögert wie möglich. Er wird wiederholt angekündigt – »Wir blieben also und erlebten als schrecklichen Lohn unserer Standhaftigkeit die eindrucksvoll-unselige Erscheinung Cipollas.« (S. 16) – und erscheint letztendlich erst deutlich später. Auch im Theater selbst lässt der Zauberkünstler mehr als eine halbe Stunde auf sich warten, bevor er überhaupt die Bühne betritt. Dem Leser der Novelle wie auch dem Publikum in der Novelle bleibt daher ausreichend Zeit, Spekulationen über diese so lang angekündigte Figur anzustellen.

Cipollas Auftritt weist daher große Ähnlichkeit mit der Strategie des Erzählers auf. Der Satz, welchen der Erzähler über Cipollas verzögerten Auftritt im Theater schreibt, ließe sich genauso gut auch auf die Novelle selbst anwenden: »Er ließ auf sich warten, das ist wohl der richtige Ausdruck. Er erhöhte die Spannung durch die Verzögerung seines Auftretens.« (S. 20) Cipolla und der Erzähler nutzen die gleiche Strategie zum Ausführen ihrer Kunst: Verzögerung.

Tatsächlich haben Literaturwissenschaftler festgestellt, dass sich auch noch weitere Parallelen zwischen dem Erzähler und Cipolla ziehen lassen (Baker 360). Beide nutzen die Sprache für ihre Zwecke. Der Erzähler der Novelle will seine Leserschaft mit seinen differenzierten Beobachtungen und Analysen für sich gewinnen, Cipolla wiederum schafft es, allein mit seiner Sprache das Publikum für sich einzunehmen. Für beide Künstler ist Sprache ein essenzielles Werkzeug. Für den Erzähler bedeutet sie den Erfolg seiner Novelle, für Cipolla den Erfolg seiner Show. Auch Giovanotto ist ein Objekt sprachlicher Manipulation.

Außerdem stellt der Erzähler fest, dass Sprache in Italien einen hohen Wert hat und als eine Art Bindemittel gesehen werden kann, das die Nation zusammenhält: »Unter Südländern ist die Sprache ein Ingredienz der Lebensfreude, dem man weit lebhaftere gesellschaftliche Schätzung entgegenbringt, als der Norden sie kennt. Es sind vorbildliche Ehren, in denen das nationale Bindemittel der Muttersprache bei diesen Völkern steht, und etwas heiter Vorbildliches hat die genußreiche Ehrfurcht, mit der man ihre Formen und Lautgesetze betreut.« (S. 28) In diesem Licht betrachtet wird Cipolla zu einer nationalistischen Figur, die es versteht, ihre Landsleute auf bewusste und manipulative Weise für sich zu gewinnen. Im Laufe der Novelle werden diese Tendenzen noch deutlicher hervortreten.

Veröffentlicht am 21. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 21. August 2023.