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Mario und der Zauberer

S. 28–40

Zusammenfassung

Cipolla legt seinen Mantel und seinen Seidenhut ab. Darunter kommt eine sehr spärliche Haartracht zum Vorschein, die an einen Zirkusdirektor erinnert. Sie sieht lächerlich aus, aber da Cipolla sie mit so viel Selbstsicherheit trägt, amüsiert sich niemand über seine Erscheinung. Außerdem hat er einen Buckel, wenngleich nicht zwischen den Schulterblättern, sondern einen etwas tiefer sitzenden, in der Hüft- und Gesäßgegend. Folglich gestaltet sich Cipollas Gehweise grotesk und ausladend.

Er kündigt an, er wolle sein Programm mit arithmetischen Übungen beginnen. Während seines ersten Tricks redet Cipolla ununterbrochen und zeigt sich dabei wie schon zuvor sprachgewandt. Außerdem kommt er häufig in den Zuschauerraum herab. Beides gehört zu seinem Arbeitsstil, und so schafft er es schnell, die Barriere zwischen dem Zuschauerraum und sich selbst aufzuheben. Vor allem bei den Kindern stößt dieses Verhalten auf große Begeisterung.

Immer wieder fordert Cipolla ausgewählte Zuschauer zum Mitmachen bei seinen Tricks auf. Als die beiden Männer, die Cipolla für den Arithmetik-Trick auserwählt hat, jedoch auf der Bühne gestehen, dass sie nicht schreiben können, reagiert er empört; in Italien könne jeder schreiben. Mit ihrer Behauptung, es nicht zu können, hätten die Männer nicht nur sich selbst erniedrigt, sondern auch ihr Land. Auf diese Behauptung hin wird einer von Cipollas auserwählten Gehilfen besonders wütend und schlägt verbal zurück.

Kurz droht die Auseinandersetzung handgreiflich zu werden, aber der Zauberer leitet eine Wendung des Geschehens ein. Indem er ein wenig auf sein Gegenüber einredet, schafft er es, ihm die Illusion zu geben, mittags zu viel von seinem Wein getrunken zu haben und nun an Verdauungsproblemen zu leiden. Der Mann krümmt sich und verlässt die Bühne; Cipolla ist zufrieden und schenkt sich selbst einen Kognak ein. Das Publikum schlägt sich auf die Seite des Zauberers und applaudiert ihm mit Bravo-Rufen. Cipollas gepeinigten Gehilfen scheint es als Schauspieler zu sehen, der eine klägliche Rolle erfolgreich gespielt hat. Der Erzähler hat Zweifel, dass das Publikum wirklich versteht, was sich gerade auf der Bühne abgespielt hat.

Cipolla setzt seine arithmetischen Tricks fort und erntet dafür noch mehr Staunen und Beifall. Es wird spät und der Erzähler überlegt bereits, dass er seine Kinder bald wird ins Bett schicken müssen. Ihm ist klar, dass sie darüber sehr traurig sein werden; gleichzeitig weiß er aber auch, dass die Show, die Cipolla vollführt, eigentlich sehr wenig mit herkömmlichen Zaubertricks zu tun hat und nicht für Kinder geeignet ist. Dem Erzähler ist suspekt, dass Cipolla seine Tricks mehr mit seinem Willen als mit Geschicklichkeit leitet. Außerdem gefallen ihm der starke Patriotismus und seine reizbare Würde nicht, sie vermitteln ihm ein beklemmendes Gefühl.

Cipolla fährt mit einem Kartentrick fort, bei dem seine Versuchspersonen für gewöhnlich die Karten aus dem Stapel ziehen, die Cipolla vorhergesehen hat. Ein junger Italiener erklärt, er sei entschlossen, nach seinem eigenen Willen die Karten zu wählen und sich jeder Beeinflussung durch Cipolla zu entziehen. Cipolla gibt sich wenig beeindruckt und ist überzeugt, dass sein Trick trotzdem funktionieren wird. Willensfreiheit existiere nicht. Je eigensinniger der junge Mann zu handeln versuche, desto sicherer werde er die von Cipolla bestimmten Karten ziehen. Genau das passiert auch.

Analyse

Wie bereits bisher, steht auch jetzt wieder die Sprache Cipollas stark im Fokus. Tatsächlich tritt er in seinen ersten Tricks weniger als Zauberkünstler, sondern vielmehr als Sprachkünstler auf. Dazu trägt auch bei, dass er nicht mit herkömmlichen Zaubertricks, sondern mit Arithmetik anfängt, und sich somit von Anfang an mehr auf Schriftzeichen konzentriert als auf reine »Magie«. Auch während seiner Tricks bedient sich Cipolla keines Zauberstabs, sondern der Sprache: »Er redete unausgesetzt dabei, besorgt, seine Darbietungen durch immerwährende sprachliche Begleitung und Unterstützung vor Trockenheit zu bewahren, wobei er sich selbst ein zungengewandter und keinen Augenblick um einen plauderhaften Einfall verlegener Conférencier war.« (S. 30) Cipollas sprachliche Schlagfertigkeit und Expertise scheinen seine wahre Zauberkunst zu sein.

Das Publikum respektiert ihn und applaudiert ihm, der Erzähler hingegen zeigt sich eher skeptisch. Ihm gefallen gewisse Eigenschaften Cipollas nicht und machen ihn wachsam gegenüber dem Zauberkünstler. Drei davon stoßen ihm ganz besonders übel auf: Cipollas Patriotismus, seine »reizbare Würde« (S. 37) und die Tatsache, dass er seine Zaubertricks mehr mit dem Willen als mit Geschicklichkeit durchführt.

Derartige Eigenschaften Cipollas sind oft zum Anlass genommen worden, Cipolla als Symbolfigur für einen diktatorischen Herrscher zu sehen; konkret für Benito Mussolini, der ab 1925 als Diktator an der Spitze des faschistischen Regimes über Italien herrschte. Viele der Attribute, für die Mussolini bekannt war, lassen sich auch in Cipolla wiederfinden: Beide werden ursprünglich nicht sehr ernst genommen und bedienen sich sadistischer Methoden, um ihre Opposition einzuschüchtern, beide machen sich kulturellen Nationalismus zunutze. (Bance)

Cipollas diktatorische Züge äußern sich insbesondere in den Eigenschaften, die der Erzähler an ihm als so unangenehm empfindet. Sein Patriotismus kommt an vielen Stellen durch, vor allem aber, als er die beiden Männer, welche ihm bei den arithmetischen Tricks assistieren sollen, der Entwürdigung ihres Landes bezichtigt: »Es ist ein schlechter Scherz, vor den Ohren dieser internationalen Gesellschaft eine Bezichtigung laut werden zu lassen, mit der ihr nicht nur euch selbst erniedrigt, sondern auch die Regierung und das Land dem Gerede aussetzt.« (S. 31) Cipollas reizbare Würde zeigt sich in der harschen Rache, die er an einem von ihnen vornimmt, indem er ihn sich krümmen und Schmerzen empfinden lässt.

Am bedenklichsten aber ist Cipollas Negation der Willensfreiheit. Zu dem widerspenstigen jungen Italiener im Publikum sagt er: »›Die Freiheit existiert, und auch der Wille existiert; aber die Willensfreiheit existiert nicht, denn ein Wille, der sich auf seine Freiheit richtet, stößt ins Leere. Sie sind frei, zu ziehen oder nicht zu ziehen. Ziehen Sie aber, so werden Sie richtig ziehen, – desto sicherer, je eigensinniger Sie zu handeln versuchen.‹« (S. 39) Eine solche Einschränkung der individuellen Willensfreiheit ist eines der wichtigsten Charakteristika einer Autokratie. Mit seiner Ähnlichkeit zu einem sadistischen Diktator nimmt Cipolla bedrohliche Züge an, und der Erzähler zweifelt, dass die Show noch geeignet für seine Kinder ist: »Und doch war klar, daß dieser Bucklige nicht zauberte, wenigstens nicht im Sinne der Geschicklichkeit, und daß dies gar nichts für Kinder war.« (S. 37)

Die Situation steigt noch in ihrer Bedrohlichkeit an, je mehr Theater und Realität miteinander verschmelzen. Denn darin ist Cipolla besonders gut: »Daß er sogleich damit fortfuhr, die Kluft zwischen Podium und Zuschauerraum aufzuheben, die schon durch das sonderbare Geplänkel mit dem Fischerburschen überbrückt worden war [...] gehörte zu seinem Arbeitsstil und gefiel den Kindern sehr.« (S. 30) Es wird immer weniger ersichtlich, ob die Teilnehmer an Cipollas Experimenten noch Schauspieler sind oder ob sie wirklich von ihm beeinflusst werden.

So ist der Erzähler nicht mehr sicher, ob der junge Mann, der sich krümmt und damit Cipollas Willen wortwörtlich beugt, schauspielert oder ob tatsächlich etwas Übersinnliches vor sich geht: »Offenbar faßte man den Ausgang des Streites nicht als persönliche Niederlage des jungen Menschen auf, sondern ermunterte ihn wie einen Schauspieler, der eine klägliche Rolle lobenswert durchgeführt hat.« (S. 35) Die Grenzen zwischen Realität und Theater verschwimmen, und Cipollas diktatorische Macht greift zunehmend in den Publikumssaal über.

Veröffentlicht am 21. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 21. August 2023.