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Othello

Aufbau des Werkes

Das Stück ist in fünf Akte zu je drei, drei, vier, drei und zwei Szenen aufgeteilt. Insgesamt gibt es somit fünfzehn Szenen. Die Szenengrenzen markieren Schauplatzwechsel und Zeitsprünge, nicht also Veränderungen des auf der Bühne vorhandenen Personals. So kann es vorkommen, dass eine große Szene – die dritte etwa des ersten Aktes – in viele stark divergierende Abschnitte zerfällt.

Strukturell zerfällt das Stück in zwei Teile, mit der Grenze zwischen zweitem und drittem Akt. In den ersten beiden Akten wird eine bestimmte Szenenform dominant (die Szenen I/3, II/1 und II/3): Othello tritt nach längeren Vorbereitungen öffentlich auf und bringt die entscheidende Wendung; wenn er abgeht, ist der öffentliche Teil der Szene vorüber, und es gibt noch ein Nachspiel mit Jago und Roderigo, dann vielleicht noch ein Nachspiel des Nachspiels mit Jago allein auf der Bühne. Den öffentlichen Rahmen liefern jeweils die nächtliche Ratssitzung und improvisierte Gerichtsverhandlung, die Ankunft und die Begrüßungen auf Zypern und das wegen der Vernichtung der türkischen Flotte gefeierte Freudenfest. Bedenkt man die Kürze der Mittelszene des zweiten Akts (es handelt sich nur um den Auftritt des das Freudenfest verkündenden Herolds – kaum eine Seite), bestimmt diese Form also den gesamten zweiten Akt.

Ab Beginn des dritten Akts wird sie nicht wieder aufgerufen. Jetzt folgen kleinere Konstellationen mehr oder weniger unbestimmt aufeinander, es gibt also keine allmähliche Zunahme des Personals mehr, keinen ›Hof‹, der sich um eine Figur bildete. Erst in der letzten Szene gibt es wieder eine größere Versammlung und eine klare hierarchische Struktur.

Die Entwicklung des Plots passt zu dieser durch die Szenenstruktur vorgegebenen Zweiteilung. Im ersten und im zweiten Akt wird die Intrige ersonnen und vorbereitet, erst im dritten Akt kommt es zum entscheidenden Angriff auf Othello – wird seine Eifersucht geweckt. Und es ist nicht die große, die öffentliche Bühne, auf der Othello verwundbar wird, sondern die Kammerspielbühne der häuslichen Sphäre, des Beiläufigen und Alltäglichen.

Die Chronologie des Stücks ist nicht eindeutig zu bestimmen, da Zeitangaben unterschiedlicher Art unterschiedliche Zeitabstände suggerieren. Klar sind aber folgende zeitliche Verhältnisse: Der erste Akt spielt ohne größeren Zeitsprung in einer Nacht. Der zweite Akt spielt innerhalb eines Tages am Nachmittag und Abend und bis zum anbrechenden Morgen; die dritte Szene umfasst die gesamte Nacht. Zwischen erstem und zweitem Akt liegt die Reise nach Zypern, deren Dauer nicht exakt zu bestimmen ist, die aber für die Handlung irrelevant bleibt, weil die wichtigsten Personen in getrennten Schiffen unterwegs waren. Der dritte Akt beginnt früh am Morgen des zum Ende des zweiten Akts angebrochenen Tages. Klar sind die zeitlichen Verhältnisse auch vom Beginn des vierten Akts an bis zum Schluss des Stücks – das ist alles an einem Tag, der fünfte Akt spielt in der Nacht.

Größere Zeitsprünge könnte es also allenfalls zwischen den letzten Szenen des dritten Akts und zwischen dem dritten und dem vierten Akt geben, doch die engen Bezüge der Dialoge aufeinander und die Tatsache, dass die Intrige, um Erfolg zu haben, rasch voranschreiten muss (denn umständlichere Gespräche Othellos mit seiner Frau oder mit Cassio könnten sie zunichte machen), macht mehr oder weniger unmittelbare Anschlüsse plausibel, sodass der Zuschauer durchaus den Eindruck haben kann, vom Beginn des zweiten Akts bis zum Ende der Tragödie seien es zwei aufeinanderfolgende Tage. Problematisch sind diese Verhältnisse, weil Cassio und Desdemona dann keine Gelegenheit gehabt hätten, Ehebruch zu begehen – die ganze Intrige Jagos scheint auf einen dummen Fehler gegründet, den Othello ohne weiteres entdeckt haben müsste. Er aber zeigt sich am Ende überzeugt, »daß sie | Mit Cassio tausendmal den Akt der Schande | Begangen hat« / »That she with Cassio hath the act of shame | A thousand times comitted« (256/257).

Deswegen gibt es Indikatoren anderer Art, die auf größere Zeitspannen deuten; die sich mit der beschriebenen Rechnung zwar nicht übereinbringen lassen, aber doch dem Glauben Othellos in den Augen der Zuschauer die nötige Plausibilität verleihen.

Gerühmt wurde die Tragödie vor allem im siebzehnten Jahrhundert wegen ihrer formalen Geschlossenheit. Von Shakespeares großen Tragödien kommt sie zweifellos den klassizistischen Anforderungen am nächsten. Realisiert ist die Einheit der Handlung – es gibt keine Nebenhandlungen – und beinahe realisiert sind die Einheit der Zeit und des Orts. Schon Samuel Johnson sah die später von Verdi verwirklichte Möglichkeit angelegt, die Handlung gleich auf Zypern beginnen und die Vorgeschichte in Erzählungen nachtragen zu lassen.

Veröffentlicht am 17. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 17. Oktober 2023.