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Othello

Rezeption und Kritik

»Othello« ist für die King’s Men geschrieben worden, die Schauspieltruppe, zu der Shakespeare gehörte. Auf der Titelseite des Quarto-Drucks von 1622 ist vermerkt, das Stück sei mehrfach im Globe und in Blackfriars gespielt worden – zwei sehr unterschiedliche Spielstätten: Im offenen Globe konnten um die 3000 Zuschauer Platz finden, in Blackfriars nur 700. Die Schauspieler mussten sich den jeweiligen Gegebenheiten anpassen: Der »Othello« im Globe mochte also ein anderer sein als der in Blackfriars.
Das Stück wurde von den King’s Men Allerheiligen 1604 am Hof gespielt, und noch einmal während der Feierlichkeiten zur Hochzeit der Prinzessin Elisabeth und des Prinzen Friedrich von Heidelberg im Jahr 1612/13.
Der Hauptdarsteller war zuerst Richard Burbage, der in dieser Rolle besonderes Lob erhielt. »Mohren« wurden mit Turban gespielt, langen weißen Kleidern, roten Hosen und einem kohle- oder rußgeschwärzten Gesicht.
Rezeptionszeugnisse aus der ersten Zeit sind rar. Am 10. September 1610 immerhin schrieb Henry Jackson (1586–1662) vom Corpus Christi College in Oxford einem Freund mit den Initialen »G.P.« in einem lateinischen Brief von einem Besuch der King’s Men, der Schauspieltruppe Shakespeares also. Aufgeführt wurden Ben Johnsons »The Alchemist«, »Othello« und andere Tragödien. Der Originalbrief ist verschollen, erhalten hat sich aber im Notizbuch des Antiquars William Fulman (1632–1688) ein Exzerpt:

At vero Desdemona ilia apud nos a marito occisa, quanquam optime semper causam egit, interfecta tamen magis movebat; cum in lecto decumbens spectantium misericordiam ipso vultu imploraet. (doi.org/10.37078/976)

Doch diese Desdemona, von ihrem Gatten in unserer Gegenwart ermordet, obgleich sie ihre Sache immer zum Besten führte, rührte sie uns doch mehr, als sie getötet wurde und ausgestreckt auf ihrem Bett das Mitleid der Zuschauer mit ihrem eigenen Gesichtsausdruck erflehte. (Übers. von inhaltsangabe.de)

Dabei wird Henry Jackson natürlich – denn Frauen waren auf der Bühne verboten – einen jungen Mann in der Rolle der Desdemona gesehen haben.
Die an die Macht gekommenen Puritaner schlossen am 6. September 1642 alle Theater. Während der Restauration wurden zwei Schauspieltruppen gestattet, die King’s Company und die Duke’s Company: Zwischen ihnen wurde das Repertoire aufgeteilt. Teil der neuen Theaterpolitik unter der restaurierten Monarchie war, dass alle Frauenrollen nun von Frauen gespielt werden durften. So gab es den ersten Auftritt einer professionellen Schauspielerin auf einer englischen Bühne am 8. Dezember 1660 in der Rolle der Desdemona.
Die große Beliebtheit, die das Stück auf den Bühnen des 17. und 18. Jahrhunderts hielt, kann auf die wirkungsvolle Hauptfigur und die stringente Handlungsführung zurückgeführt werden: Selbst klassizistischen Anforderungen kam das Stück durch die Kompaktheit des Plots und die engen räumlichen und zeitlichen Begrenzungen entgegen.
Die Beobachtung macht auch der berühmte Essayist Samuel Johnson (1709–1784), der seine Anmerkungen zu »Othello« mit den folgenden, häufig zitierten »General Observations« beschließt:

    The beauties of this play impress themselves so strongly upon the attention of the reader, that they can draw no aid from critical illustration. The fiery openness of Othello, magnanimous, artless, and credulous, boundless in his confidence, ardent in his affection, inflexible in his resolution, and obdurate in his revenge; the cool malignity of Iago, silent in his resentment, sublte in his designs, and studious at once of his interest and his vengeance; the soft simplicity of Desdemona, confident of merit, and conscious of innocence, her artless perseverance in her suit, and her slowness to suspect that she can be suspected, are such proofs of Shakespeare’s skill in human nature, as, I suppose, it is vain to seek in any modern writer. The gradual progress which Iago makes in the Moor's conviction, and the circumstances which he employs to inflame him, are so artfully natural, that, though it will perhaps not be said of him as he says of himself, that he is a man not easily jealous, yet we cannot but pity him, when at last we find him perplexed in the extreme. (Johnson)
    Die Schönheiten dieses Stücks drängen sich der Aufmerksamkeit des Lesers so stark auf, dass es von kritischer Erläuterung keiner Hilfe bedarf. Die feurige Offenheit Othellos – hochherzig, unverstellt und gutgläubig, grenzenlos in seinem Vertrauen, inbrünstig in seiner Neigung, unbeugsam in seinen Entschlüssen, unerbittlich in seiner Rache; die kühle Boshaftigkeit Jagos – still in seinem Groll, feinsinnig in seinen Entwürfen und beflissen zugleich im Dienst seiner Rache und seines Vorteils; die sanfte Schlichtheit Desdemonas – bauend auf ihre Verdienste und ihrer Unschuld bewusst – die kunstlose Beharrlichkeit ihres Gesuchs und ihre Schwerfälligkeit, den Verdacht, der auf sie fällt, zu erraten – dies alles sind Beweise von Shakespeares Kennerschaft der menschlichen Natur, die, wie ich annehme, kaum bei einem modernen Autor zu finden sein werden. Der Fortschritt, mit dem Jago nach und nach die Überzeugungen des Mohren untergräbt und die Umstände, die er einsetzt, um seine Leidenschaft in Brand zu setzen, sind von einer so gekonnt suggerierten Unauffälligkeit, dass wir – obgleich von ihm vielleicht nicht das gesagt werden kann, was er von sich sagt, dass er nicht leicht eifersüchtig werde – nicht umhin kommen, ihn zu bemitleiden, wenn wir ihn aufs Äußerste verwirrt sehen. (Übers. von inhaltsangabe.de)

Ein weiteres Zeugnis der ungeheuren Wirksamkeit des Stückes auf der Bühne lieferte Stendhal (1783–1842) in seinem Essay »Racine et Shakespeare« (1823–1825). Die Anekdote ist eingebettet in eine Diskussion theatraler Illusion:

    L’illusion théâtrale, ce sera l’action d’un homme qui croit véritablement existantes les choses qui se passent sur la scène.
    L'année dernière (août 1822), le soldat qui était en faction dans l'intérieur du théâtre de Baltimore, voyant Othello qui, au cinquième acte de la tragédie de ce nom, allait tuer Desdemona, s'écria »Il ne sera jamais dit qu'en ma présence un maudit nègre aura tué une femme blanche.« Au même moment le soldat tire son coup de fusil, et casse un bras à l'acteur qui faisait Othello. (Stendhal 17)
    Die perfekte theatrale Illusion – das wäre die Handlung eines Mannes, der wirklich an die Wahrhaftigkeit der Dinge glaubt, die auf der Bühne geschehen.
    Der Soldat letztes Jahr (August 1822), der im Innern des Theaters von Baltimore Dienst hatte, und der sah, wie Othello, im fünften Akt der Tragödie dieses Namens, im Begriff war Desdemona zu töten, rief aus: »Niemals soll es von mir heißen, dass in meiner Gegenwart ein verfluchter Neger eine weiße Frau getötet habe.« Im selben Moment schoss er sein Gewehr ab und brach dem Schauspieler, der Othello spielte, den Arm. (Übers. von inhaltsangabe.de)

Erst im zwanzigsten Jahrhundert gab es die ersten Inszenierungen, in denen Schwarze die Titelrolle übernahmen.

Das Stück ist vielfach verfilmt worden. Die berühmteste Adaption dürfte aber Verdis spätromantische Oper »Otello« (1887) sein. Höhepunkte der vier Akte sind die Absetzung Cassios, die beginnende Eifersucht Othellos, die öffentliche Züchtigung Desdemonas und – natürlich – der Tod Othellos.

 

Veröffentlicht am 17. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 17. Oktober 2023.