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Othello

Interpretation

Grenzen des Politischen

»Othello« wird zu den ›Großen Tragödien‹ Shakespeares gezählt, nimmt unter diesen aber doch eine Sonderstellung ein. Anders als Hamlet, König Lear oder Macbeth hat Othello keine tragende politische Funktion. Seine militärischen Verdienste haben ihm einen Sonderstatus in der Republik Venedig verschafft; er erfreut sich großer Beliebtheit und kann vom Dogen nicht übergangen werden, wenn es um wichtige militärische Angelegenheiten geht – das ja; ihm gelingt es auch, kraft seiner tadellosen Reputation die Tochter eines angesehenen Ratsherren zu heiraten und diese Heirat vor dem Rat gegen die Klage des Vaters zu verteidigen; doch ist er mit der politischen Ordnung als solcher nicht so innig verwoben, dass sein Fall sie bedrohte oder nur erschütterte. Er behält – nur ins Positive gewendet – auch mit seinen Erfolgen die Position eines Außenseiters. »I am sorry that I am deceived in him« / »Sehr schade, daß ich mich in ihm getäuscht habe« (194/195) – das ist die mehr oder weniger betroffene, vielleicht nur achselzuckende Reaktion Lodovicos auf den offensichtlichen Niedergang des Generals. Der Aufstieg Othellos also war nur ein Aufstieg unter Vorbehalten: Zu vergleichen vielleicht mit dem Aufstieg einer populistischen Figur in der heutigen politischen Landschaft, die rasch viel Aufmerksamkeit, Beliebtheit und auch Macht auf sich konzentrieren, und die ebenso rasch von der Bildfläche wieder verschwinden kann. Der Respekt, der Othello im Rat entgegengebracht wird, verhindert nicht die offen vor demselben Rat vorgetragenen rassistischen Schmähungen Brabantios – das heißt: Der Rassismus, der in Fragen der militärischen Funktion Othellos außer Kraft gesetzt ist, droht unmittelbar wieder wirksam zu werden, sobald der Emporkömmling sich auch im privaten, auch im erotischen Bereich in die hohe venezianische Gesellschaft zu integrieren sucht.

Dass nun die private Katastrophe Othellos auch seine öffentliche Stellung untergraben muss, spricht Lodovico an der genannten Stelle offen aus. Ihm gelingt nicht, was er in Venedig vor dem Dogen noch behauptete, leisten zu können: Dass seine militärische Funktion von der jungen Liebesbeziehung untangiert bleibe.

    »And heaven defend your good souls that you think | I will your serious and great business scant | For she is with me. No, when light-winged toys | Of feathered Cupid seel with wanton dullness | My speculative and officed instruments, | That my disports corrupt and taint my business, | Let housewives make a skillet of my helm, | And all indign and base adversities | Make head against my estimation!«
    »Und Gott behüte, daß Sie denken, ich | Vernachlässigte Ihre große Sache, wenn | Sie bei mir ist! Nein, wenn mir Amors Pfeil | Und leichtbeschwingte Tändelei den klaren | Und diensteifrigen Blick mit geiler Trägheit | So trübt, daß mein Vergnügen meinen Auftrag | Befleckt und meinen Rang beschädigt, dann | Solln Hausfraun mir den Helm zum Kochtopf machen, | Und aller Schimpf und Schande soll | Einstürmen auf mein Ansehn!« (48/49)

Dabei stellt sich der Konflikt zwischen öffentlicher Verpflichtung und privater Raserei in Othello selbst nicht dar. Das ist eigenartig genug, denn hier hätte gerade für eine dramatische Bearbeitung großes Potenzial gelegen. Tatsächlich ist er für die öffentlichen Auswirkungen seiner Rache blind und befangen in dem naiven Glauben, das, was seine Taten in seinen Augen rechtfertigt, rechtfertige sie auch in den Augen anderer. Interessant ist der Moment nach der Ermordung Desdemonas, wenn Emilia dazukommt: Kurz macht er sich die ihn entschuldigende Aussage Desdemonas zu eigen (»You heard her say herself it was not I.« / »Hast selbst gehört, sie sagte, ich war’s nicht.« – 248/249), dann aber fühlt er sich erneut von ihr abgestoßen, verflucht sie als Lügnerin und bekennt sich zu einer Tat, für die er, wie er selbst sagt, in die Hölle müsste, wenn er sie nicht »upon just grounds« (250) / mit gutem Grund begangen hätte.

Anders als die Helden der anderen großen Tragödien, agiert Othello nicht im Zentrum der politischen Ordnung, sondern an deren Rand. Der Schauplatz Zypern ist insofern treffend gewählt. Anders als in der historischen Wirklichkeit, ist die Bedrohung durch die türkische Flotte im Stück ohne Zutun der Venezianer von einem Sturm abgewendet worden – dadurch aber entfällt auch der Druck von außen, der dem Außenseiter Othello seine besondere Stellung in der venezianischen Politik garantierte. Das Stück operiert entlang verschiedener Grenzen – den Grenzen zwischen Politischem und Privatem, zwischen dem Innen und Außen der abendländischen Kultur, zwischen Weiß und Schwarz. Keine dieser Grenzen hat absoluten Bestand. Sie werden unter gewissen Bedingungen aufgehoben und können opportunistisch nachgezogen werden. Kein Wunder, dass das Stück die Aufmerksamkeit der postkolonialen Strömungen in der Literaturwissenschaft auf sich gezogen hat.

Eindeutige Verhältnisse

»Othello« ist eines der wenigen Shakespeare-Stücke mit zwei ungefähr gleich gewichteten Männerrollen. Berühmte Schauspieler, die sonst im Verdacht stünden, die Titelfigur zu übernehmen, haben die Rolle des Jago gespielt – etwa Ian McKellen und Kenneth Branagh. Ausschlaggebend ist für die Prominenz des Intriganten dabei nicht allein die Textmenge. So deutlich er auf einer niedrigeren sozialen Stufe als die Hauptfigur angesiedelt, so sehr er als Erfinder und Ausführer der Intrigenmaschinerie ein bloßes dramaturgisches Werkzeug ist – wie Wurm in »Kabale und Liebe«, wie Marinelli in »Emilia Galotti –; seine Eloquenz und Verwandlungsfähigkeit, seine Lust an der Inszenierung, seine Menschenkenntnis und sein Witz rücken ihn in die Nähe von Figuren wie Hamlet. Was ihn letztlich motiviert, das ist Gegenstand langer Spekulationen, die zu keinem sicheren Ergebnis führen. Wenn Jago auch durch den Sturz Othellos die Republik Venedig kurz in Aufruhr bringen mag – er verbindet damit kein Interesse. Und er gewinnt an Format dadurch, dass er, anders als Wurm oder Marinelli, keinem höheren Herrn unterstellt ist, in dessen Dienst er seine bösartige Genialität stellte – Roderigo ist ja nur der Witz einer solchen Figur.

Das Geheimnisvolle und Unbestimmte, das Unbestimmbare und Wechselhafte, das Jago anhaftet – das sind ebensolche Eigenschaften, die Othello (und auch Desdemona) abgehen. Seine Motivation ist – ob ohne oder mit der Eifersucht – immer eindeutig. Den Zustand der Ungewissheit, in den ihn Jago zu Beginn seiner ›Vergiftung‹ stürzt, hält er nur eine kurze Zeitspanne aus, und er brüstet sich damit, für Eifersucht deswegen nicht anfällig zu sein, weil er sich, wenn er einmal zweifelte, sogleich Klarheit schüfe: »No, to be once in doubt | Is once to be resolved.« / »Nein! Einmal zweifeln | Heißt einmal Schlüsse ziehn.« (130/131) Diese Ungeduld und das unbedingte Vertrauen in die eigene Urteilskraft, die mangelnde Einsicht in die Scheinhaftigkeit und die Täuschungen der Welt – das ist sein Fehler, der ihn zu Fall bringt; man wird aber mit einiger Plausibilität annehmen können, dass dies zugleich die Tugend ist, die ihm seine militärischen Erfolge erworben hat.

Die Konfrontation eines erfolgreichen, sich ›draußen‹ bewährenden Tatmenschen mit den verfeinerten und mehrdeutigen Umgangsformen des politischen Zentrums – meist des Hofes –, ist in der Literatur ein bekanntes Motiv: Man denke an Götz von Berlichingen und Weislingen. Cassio ist tatsächlich der Vertreter städtisch und zivil geschulten Verhaltens: Er spricht eine gepflegte, bis ins Manierierte reichende Sprache (vor allem in Szene II/1); er entschuldigt gegenüber Jago den Kuss, den er Emilia zur Begrüßung gibt, mit seinem »breeding« / seiner »Kinderstube« (66/67), das heißt Gesten der Zuneigung, die ein einfacher Militär wie Jago als authentische Gesten der Intimität begreifen müsste, sind bei ihm bereits Teil des höflichen Repertoires; und er definiert sich maßgeblich über seine Reputation, über das Bild, das er abgibt: »what remains is bestial« / »und was übrigbleibt, ist viehisch!« (100/101)

Wieder zeigt sich das, was »Othello« ist, am besten daran, was das Stück nicht ist, was aber als Möglichkeit in ihm angezeigt wird. Die viel einfachere Variante wäre die gewesen, in der Cassio Desdemona tatsächlich liebte und sich Jagos als seines Intriganten bediente. Desdemona aber wird in dem Stück nicht verführt (wie es das im zeitgenössischen Kontext aktuelle Modell der »domestic tragedy« nahelegte), Cassio ist auch ein Opfer Jagos, und Jago ist kein Höfling, sondern selbst ein erprobter Soldat.

Die Konzentration des selbstbewussten Umgangs mit der Scheinhaftigkeit der Welt in der abgründigen Figur Jagos vereinfacht die übrigen Charaktere. Desdemona ist nur die unschuldige, treue Ehefrau, Cassio nur der polierte Soldat, der leider keinen Alkohol verträgt, Othello nur der getäuschte, nicht auch der wirklich betrogene. Es gibt in dem Stück keinen ernsthaften Rivalen Othellos (Roderigo scheidet aus), keinen unverheirateten Liebhaber und Verführer, wie im Modell der »domestic tragedy«.

Shakespeares Kunst erweist sich nun darin, dass die so vereindeutigten Charaktere dennoch nicht platt wirken, sondern lebendig und fein nuanciert: Ja gerade ihre Befreiung von wichtigen Plot-Funktionen gibt der feinen Nuancierung Raum (vgl. nur Othellos kurze Repliken in Szene III/3, wenn der Zweifel in ihm Raum gewinnt – 132/133).

Veröffentlicht am 17. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 17. Oktober 2023.