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Schachnovelle

Interpretationsansätze

Die Funktionen des Schachspiels

In der »Schachnovelle« steht, wie der Titel bereits verrät, das Schachspiel im Mittelpunkt. Ein zunächst neutrales Spiel wird aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und erhält von jeder der Figuren eine individuelle Bedeutung und Funktion.

Der Ich-Erzähler selbst sieht in dem Schachspiel eher einen vergnüglichen Zeitvertreib: »Ich  ›spiele‹ Schach im wahrsten Sinne des Wortes, während die andern, die wirklichen Schachspieler, Schach ›ernsten‹« (25). Auch für McConnor handelt es sich lediglich um einen Zeitvertreib, dennoch tritt dieser sehr viel verbissener auf, da er schlecht verlieren kann: »[...] denn dieser Mister McConnor gehörte zu jener Sorte selbstbesessener Erfolgsmenschen, die auch im belanglosesten Spiel eine Niederlage schon als Herabsetzung ihres Persöhnlichkeitsbewusstseins empfinden« (26). 

Für Czentovic stellt das Schachspiel die einzige Möglichkeit dar, ein erfolgreiches Leben zu führen, da er ansonsten unbegabt ist: »[...] und vor allem die handgreifliche Tatsache mehr als sie zu verdienen, verwandelte die ursprüngliche Unsicherheit in einen kalten und meist plumpen Stolz« (18). Demnach nimmt er das Schachspiel um einiges ernster als seine Gegner.

Für Dr. B. nimmt Schach eine ganz andere Bedeutung ein. Das Schachspiel war für ihn einst eine Rettung vor den seelischen Qualen der Isolationshaft: »[...] denn das Schachspiel besitzt den wunderbaren Vorzug, durch Bannung der geistigen Energien auf ein engbegrenztes Feld selbst bei anstrengendster Denkleistung das Gehirn nicht zu erschlaffen, sondern eher seine Agilität und Spannkraft zu schärfen« (52) und schließlich der Auslöser für eine dissoziative Identitätsstörung: »Aus der Spielfreude war eine Spiellust geworden, aus der Spiellust ein Spielzwang, eine Manie, eine frenetische Wut« (58). 

Die Novelle zeigt anhand des Symbols des Schachspiels, wie etwas vollkommen Neutrales in einem subjektiven Kontext Bedeutung gewinnt. Diese Bedeutung kann unterschiedlich gewichtet sein und von einem belanglosen Zeitvertreib (Ich-Erzähler und McConnor) über den Garant für Anerkennung und Reichtum (Czentovic) bis hin zu einer psychischen Schutzstrategie (Dr. B.) reichen.

Die psychologische Deutung vor einem historischen Hintergrund

Wie bereits verdeutlicht, ging die im Nationalsozialismus verwendete Methode der Isolationshaft mit massiven seelischen Qualen einher, die innerhalb der Novelle beispielhaft aufgegriffen werden. Dr. B.s. Erzählung sowie sein Verhalten deuten auf eine dissoziative Identitätsstörung hin, die möglicherweise durch diese Foltermethode ausgelöst wurde.

Eine dissoziative Identitätsstörung lässt sich wie folgt definieren: »Bei der dissoziativen Identitätsstörung […] alternieren zwei oder mehrere Identitäten in derselben Person. Außerdem kann sich die Person auch nicht an Informationen erinnern, an die man sich normalerweise problemlos erinnern könnte« (Spiegel, 2021).

Die geschilderte Amnesie wird in der Novelle ebenfalls deutlich: »Habe ich etwas Unsinniges gesagt oder getan... bin ich am Ende wieder...?« (108).

Es gibt zwei verschiedene Formen der dissoziativen Identitätsstörung. Im Falle Dr. B.s. lässt sich davon ausgehen, dass eine Besessenheitsform vorliegt: »Bei der Besessenheitsform erscheinen die verschiedenen Identitäten einer Person als wären es Außenstehende, die die Kontrolle über die Person übernommen haben« (Spiegel, 2021).

Dieses Bild wird z. B. durch die folgende Formulierung vermittelt: »Aber selbst diese Selbstzerteilung war noch nicht das Gefährlichste an meinem abstrusen Experiment, sondern dass ich durch das selbständige Ersinnen von Partien mit einemmal den Boden unter den Füßen verlor und ins Bodenlose geriet« (80).

Eine Annahme ist, dass die traumatische Erfahrung der Isolationshaft als Ursache für die dissoziative Identitätsstörung Dr. B.s. fungierte: »Die dissoziative Persönlichkeitsstörung tritt normalerweise bei Personen auf, die […] einem überwältigenden Trauma ausgesetzt waren« (Spiegel, 2021). Die Erzählung ermöglicht demnach u. a. die Entwicklung eines Verständnisses für die Zerbrechlichkeit der menschlichen Psyche.

Es lässt sich weiterhin die These aufstellen, dass Zweig mit seinem Werk die Intention verfolgte, auf die Grausamkeiten des Nazi-Regimes und die Folgen der Foltermethoden aufmerksam zu machen. Das Aufgeben Dr. B.s. am Ende der Novelle deutet auf die Resignation und Verzweiflung des Autors selbst hin. 

Generell lassen sich einige Parallelen zu Zweigs Leben finden. Er spielte selbst gerne Schach, wie der Ich-Erzähler jedoch aus reinem Vergnügen. Darüber hinaus unternahm Zweig im August 1941 mit seiner Frau Lotte eine Reise von New York nach Brasilien, in seinem Fall nach Rio. Auch der Ich-Erzähler befindet sich in Begleitung seiner Frau auf dem Dampfer. Wichtig zu erwähnen ist ebenfalls, dass Stefan und Lotte Zweig im Juni 1941 einen Anwalt aufsuchten, der ihnen in persönlichen Angelegenheiten zur Seite stehen sollte. Dieser könnte die Entstehung der Figur Dr. B. beeinflusst haben (vgl. Prochnik, 2016). 

Angesichts seines eigenen Freitods kurz nach Fertigstellung der »Schachnovelle« lässt sich interpretieren, dass Zweig aufgrund der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten trotz Exil keinen Ausweg sah. Der intellektuelle Dr. B. gibt gegenüber dem primitiven Czentovic auf, so wie Zweig, emotional gesehen, gegenüber den Nationalsozialisten. Sein wacher Geist kann den seelischen Verletzungen nicht standhalten.

Veröffentlicht am 5. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 5. September 2023.