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Schachnovelle

Abschnitt 4 (S. 93-109)

Zusammenfassung

Der Ich-Erzähler versichert Dr. B. nach dessen Erzählung, dass er nun noch interessierter an einem Schachduell gegen Czentovic sei. Dr. B. reagiert bescheiden und bittet ihn, nicht zu viel zu erwarten. Er möchte das Duell lediglich als Probe für sich selbst betrachten, um festzustellen, ob er zu einer Partie gegen eine andere Person in der Lage ist. Er betont, dass er nur eine einzige Partie spielen möchte, um sich nicht erneut in seinem Wahn zu verlieren.

Am nächsten Tag findet das vereinbarte Duell zwischen Czentovic und Dr. B. statt. Die zuschauenden Passagiere verlieren aufgrund der Komplexität des Spiels schnell den Überblick. Czentovic erscheint unbeweglich und angestrengt, Dr. B. hingegen wirkt entspannt und agil.

Czentovic nimmt darüber hinaus lange Pausen zwischen den Zügen, um über seinen nächsten Zug nachzudenken. Dr. B. verfällt durch die Wartezeiten in eine leichte Nervosität und beginnt, kurz vor seinem Sieg, zu zittern. Schließlich verkündet er stolz und selbstbewusst seinen Triumph. Czentovic und die Zuschauer schweigen. Czentovic fegt alle Figuren vom Schachbrett. Er gibt auf, um nicht vor den Augen aller ein Schachmatt zu erfahren. Die Zuschauer stehen erregt auf und freuen sich, dass der gemeinsame Freund den amtierenden Schachweltmeister geschlagen hat.

Entgegen seiner vorherigen Ankündigung willigt Dr. B. dennoch ein, als Czentovic eine weitere Partie vorschlägt. Dr. B. ist sehr erregt und zittert. Dem Ich-Erzähler ist seine Begeisterung unangenehm. Er versucht flüsternd, Dr. B. von einer weiteren Partie abzuhalten, doch dieser beginnt boshaft zu lachen und wirkt stark verändert. Wirr murmelt er vor sich hin.
Während der Partie beobachtet der Ich-Erzähler, wie die Symptome des Wahns immer stärker hervorstechen. Dr. B. hat starken Durst, beginnt zu schwitzen und reagiert stets ungehalten. Czentovic verzögert seine Züge absichtlich, weil er merkt, dass dies seinen Gegner nervös macht. Als Dr. B. ein Schachmatt verkündet, bemerkt Czentovic, dass sein Gegner falsch liegt, da sein König gar nicht bedroht ist. Darauf reagiert Dr. B. umso verwirrter.

Der Ich-Erzähler befreit Dr. B. aus seinem Wahnzustand, indem er ihn auf die Narbe an seiner Hand aufmerksam macht und »Remember!« flüstert. Als er begreift, was passiert ist, zieht Dr. B. sich aus dem Spiel zurück und entschuldigt sich bei allen Beteiligten. Er kündigt an, nie wieder Schach spielen zu wollen. Czentovic quittiert die halb beendete Partie mit einer herablassenden Bemerkung.

Analyse

Das Schachspiel scheint noch immer eine große Macht über Dr. B. zu haben. Dies wird deutlich, da er bei der Beobachtung besagter Schachpartie seine Selbstkontrolle verliert und starke Gefühle empfindet: »[...] dass ich, alle Höflichkeit vergessend, mich einmengte in Ihre Partie. Aber dieser falsche Zug Ihres Freundes traf mich wie ein Stich ins Herz. Es war eine reine Instinkthandlung, dass ich ihn zurückhielt, ein impulsiver Zugriff« (93). In seiner Sprache auf S. 94 wird darüber hinaus die erhebliche Unsicherheit deutlich, die Schach in ihm auslöst: »[...] soll nichts als eine Probe für mich sein... eine Probe, ob ich... ob ich überhaupt fähig bin« (94).

Während des Duells liegt ein besonderer Fokus auf dem Kontrast, den Dr. B. und Czentovic zueinander darstellen. Czentovic bleibt »unbeweglich wie ein Block« (96), während Dr. B. sich »vollkommen locker und unbefangen« (ebd.) bewegt. In Czentovics Spiel schleichen sich »endlose Überlegungspausen« (98) ein, Dr. B. wiederum wird »immer unruhiger« (ebd.). Er hat einen »rapid arbeitenden Verstand« (ebd.), der darauf schließen lässt, dass er mit seiner ausgereiften Imaginationskraft bereits alle möglichen Verläufe der Partie im Geiste durchgespielt hat. Während Czentovic immer langsamer und schwerfälliger wird, entwickelt sich auf Seiten Dr. B.s. eine nervöse Schnelligkeit.

Die enorme Erregung Dr. B.s. steigt mit dem Voranschreiten der Partie immer weiter an. Als sie sich dem Ende zuneigt, beginnt sein ganzer Körper »zu zittern« (99). Als Czentovic aufgibt, wird erneut ein deutliches Bild des Kontrasts geschaffen, indem betont wird, dass der »Champion« (101) vor einem »Anonymus« (102) versagt habe.

Die »unangenehme Begeisterung« (ebd.) mit der Dr. B., entgegen seiner vorherigen Ankündigung, einer weiteren Partie zustimmt, weist auf seinen veränderten Zustand hin. Der Ich-Erzähler, welcher als einziger seine Vorgeschichte kennt, zeigt sich als empathischer Charakter, dessen Unbehagen zu »einer Art Angst« (ebd.) heranwächst.

Auf sein Eingreifen reagiert Dr. B. grob und wahnhaft, er lacht »laut und boshaft« (103). Dieses Verhalten passt nicht zu dem Teil seiner Persönlichkeit, welchen die Passagiere des Schiffes zuvor kennengelernt haben. Es lässt sich interpretieren, dass Dr. B., wie zuvor in seiner Isolationshaft, einer Persönlichkeitsspaltung unterliegt und nun sein zweites Ego von ihm Besitz ergreift. Seine vorherige Bescheidenheit weicht einer ausgeprägten Abgehobenheit: »Siebzehn Partien hätte ich unterdessen spielen können statt dieser Bummelei« (ebd.). Aus Dr. B. und Czentovic werden »zwei Feinde« (ebd.).

Innerhalb der nächsten Partie verliert Dr. B. den Bezug zur Realität. Fälschlicherweise geht er davon aus, Czentovic Schachmatt gesetzt zu haben. »Czentovics Königsfeld war tatsächlich – ein Kind konnte das erkennen – durch einen Bauern gegen den Läufer völlig verdeckt, also kein Schach dem König möglich« (107). Dr. B. ist stark verwirrt, er scheint in seinem Geiste eine andere Partie zu spielen (vgl. 108).

Der Ich-Erzähler unternimmt den Versuch, Dr. B. in die Realität zurückzuholen und Kontakt zu seiner gesunden Persönlichkeit herzustellen, indem er das englische Wort »Remember!« (ebd.) zu deutsch »erinnere« verwendet und seine Narbe an der Hand berührt. Der Versuch gelingt.

Die zwei Persönlichkeiten Dr. B.s. scheinen in einem so geringen Kontakt zueinander zu stehen, dass ihm plötzlich seine Erinnerungen an die Partie fehlen: »Habe ich etwas Unsinniges gesagt oder getan... bin ich am Ende wieder...?« (ebd.). Mit seiner alt bekannten Höflichkeit entschuldigt er sich und bricht die Partie ab (109). Es lässt sich die These aufstellen, dass Dr. B. unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet und das Schachspiel als Auslöser für das Trauma fungiert und zu einem Wiedererleben führt.

Am Ende der Novelle wird ein Bogen zum Anfang geschlagen, als wäre nichts Gravierendes geschehen. »Er verbeugte sich und ging, in der gleichen bescheidenen und geheimnisvollen Weise, mit der er zuerst erschienen war« (ebd.). Auf diese Weise wird suggeriert, dass man Personen stets nur vor den Kopf schauen kann.

Veröffentlicht am 5. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 5. September 2023.