Skip to main content

Schachnovelle

Abschnitt 3 (S. 49-92)

Zusammenfassung

Dr. B. beginnt dem Ich-Erzähler seine Geschichte zu erzählen: Mitte der 1930er Jahre leitete er gemeinsam mit seinem Vater und später alleine eine Rechtsanwaltskanzlei. Als Vermögensverwalter pflegten sie eine enge Beziehung zum österreichischen Adel.

Während des erstarkenden Nationalsozialismus in Österreich bemühte sich Dr. B. aufopferungsvoll, das Vermögen seiner Klienten zu schützen. Jedoch wurde er Opfer einer Denunzierung durch einen seiner Mitarbeiter und einen Tag vor Hitlers Einmarsch in das damalige Wien von der SS verhaftet.

Dr. B. wurde Leidtragender der raffinierten Methode der Isolationshaft. Obwohl das Hotelzimmer, in das er gesperrt wurde, komfortabel eingerichtet war, drohten ihm schlimme seelische Qualen. Immer wieder wurde seine Isolation von grausamen Verhören unterbrochen. Durch diese Unterbrechungen gelang es Dr. B. jedoch, ein Buch aus der Manteltasche eines Mannes der Gestapo zu stehlen. Ihm war alles Recht, sogar ein Diebstahl, um den Qualen der Isolation zu entkommen.

Als Dr. B. sah, dass es sich bei dem Buch um ein Schachbuch handelte, war er zunächst enttäuscht. Dennoch begann er, es zu lesen und sich intensiv in die geschilderten Partien und Herangehensweisen hineinzudenken. Er entdeckte die Methode, die dargestellten Partien im Geiste nachzuspielen und fand so einen Weg, sowohl die Isolationshaft als auch die Verhöre zu überstehen. Mit Hilfe der Planung von Partien schaffte er sich selbst eine Tagesstruktur.
Dieser positive Effekt seiner Strategie hielt jedoch nicht lange an. Die wahnhafte Auseinandersetzung mit dem Spiel gegen sich selbst führte zu einem zwanghaften und manischen Zustand. Dr. B. erlebte eine Spaltung seiner Persönlichkeit und hatte das Gefühl, verrückt zu werden. Er litt unter einer allgemeinen Schwäche, Gewichtsverlust, Schlafstörungen und einem dauerhaften Zittern. Sobald er mit dem Schachspiel im Geiste begann, verschwanden die Symptome jedoch oder wurden nicht mehr wahrgenommen. Nur in diesem Zustand empfand Dr. B. eine unbezwingbare Stärke.
Als er eines Tages plötzlich die Krankenschwester sah, konnte er kaum glauben, nach so langer Zeit wieder einen echten Menschen vor sich zu haben, der ihm kein Leid zufügen mochte. Dr. B. bemerkte, dass er sich in einem Krankenhaus befand. Der Arzt war sehr freundlich und diagnostizierte irritierte Nerven. Er wunderte sich, dass Dr. B. kein Mathematiker oder Chemiker sei, da dieser während des Fiebers immer wieder Formeln geschrien habe.

Zwei Tage später erzählte der Arzt Dr. B., dass dieser während eines Wahns einen Wärter angegriffen habe. Der Wärter hätte laute Schreie aus dem Zimmer Dr. B.s. gehört, die sich anhörten, als würde dieser mit jemandem streiten. Dr. B. zog sich bei dem Versuch, eine Scheibe einzuschlagen, eine Verletzung zu, die daraufhin im Krankenhaus behandelt wurde. Der Arzt erwirkte sodann seine Entlassung; Dr. B. vermutete, dass der Arzt auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert haben könnte. Die Bedingung für die Entlassung war, dass Dr. B. das Land innerhalb von vierzehn Tagen verlässt.

Analyse

Es lässt sich schließen, dass Dr. B. aufgrund seiner Vorgeschichte, und im Gegensatz zu Czentovic, aus guten Verhältnissen stammt. Er ist gebildet und diskret. Diese Diskretion schlug sich auch in seiner Tätigkeit als Vermögensberater nieder. Die unscheinbare Kanzlei steht hier stellvertretend für seine eigene Person. Niemand vermutete, was sich hinter den Türen dieser Kanzlei verbarg, ebenso wie D. B. für die anderen Passagiere auf dem Schiff ein Rätsel bleibt. »De facto hat in all diesen Jahren keine Behörde in Österreich jemals vermutet, dass die geheimen Kuriere des Kaiserhauses ihre wichtigste Post immer gerade in unserer unscheinbaren Kanzlei im vierten Stock abholten oder abgaben« (50).

Dr. B. bezeichnet sich selbst als »bescheidene Person« (54), mit Hilfe der Isolationshaft sollten jedoch wichtige Informationen über seine Klienten erpresst werden. Er betont die erhebliche Qual, die eine Isolationshaft für die menschliche Psyche bedeutet, um sie dem Ich-Erzähler verständlich zu machen: »[...] denn bekanntlich erzeugt kein Ding auf Erden einen solchen Druck auf die menschliche Seele als das Nichts« (55f.). Auch die Wiederholung auf S. 57 dient dieser Verdeutlichung: »Nichts geschah. Man blieb allein. Allein. Allein« (57).

Der Druck auf Dr. B.s. Seele nahm zu und er suchte verzweifelt nach einer Ablenkung und Beschäftigung für seinen Geist (62). Die Verhöre lösten starke Ängste in ihm aus. Das Stehlen das Schachbuches stellte für Dr. B. eine »Rettung« (64) vor einer geistigen Verkümmerung und seinen größer werdenden Sorgen dar. Der Diebstahl stellt einen Kontrast zu Dr. B.s. Persönlichkeit und seinem Wertesystem dar. Dass er ihn dennoch begann, weist auf die seelische »Not« (ebd.) hin, in der er sich zu der Zeit befand. Metaphorisch spricht er von »Hunger nach Gedrucktem, nach Geschriebenem« (65), so unterfordert war sein Geist. Die Großbuchstaben auf S. 67 verdeutlichen Dr. B.s. unermessliche Freude, als er das Buch entdeckte: »Mir begannen die Knie zu zittern: ein BUCH!« (67.).

Die anfängliche »Enttäuschung« (70), die Dr. B. empfand, da es sich um ein Schachbuch handelte, lässt vermuten, dass er sich unter anderen Umständen niemals dem Schachspiel gewidmet hätte. Die nächsten Seiten beleuchten Dr. B.s. Überlegungen, wie er die geschilderten Schachpartien nachspielen könnte. Seine neue Beschäftigung bot ihm eine Struktur, Pläne und Ziele im Nichts (vgl. 74). All dies deutet darauf hin, dass seine vorherigen Ängste vergessen waren. Seine Psyche verwendete diese Schutzstrategie, ihren alleinigen Fokus auf Schach zu setzen, um ihn vor schlimmeren seelischen Qualen zu bewahren. Um die Verdrängung und Ablenkung aufrechtzuerhalten, begann er schließlich, sich eigene Partien auszudenken (vgl. 76).

Nach dem Nachspielen und Ausdenken von Partien begann Dr. B. sich im Wahn zu verlieren. Es lässt sich annehmen, dass er einer Spaltung seiner Persönlichkeit unterlag. Er begann mit sich selbst bzw. seinem zweiten Ego Schach zu spielen (vgl. 79). Rückblickend erkennt Dr. B., wie gefährlich sein Zustand war: »Aber selbst diese Selbstzerteilung war noch nicht das Gefährlichste an meinem abstrusen Experiment, sondern dass ich durch das selbständige Ersinnen von Partien mit einemmal den Boden unter den Füßen verlor und ins Bodenlose geriet« (80). Er verlor den Bezug zur Realität. Dennoch versucht er, den Verfall in seinen Wahn zu rechtfertigen: »Aber vergessen Sie nicht, dass ich aus aller Normalität gewaltsam gerissen war, ein Häftling, unschuldig eingesperrt« (82).

Ohne den Vorfall mit dem Wärter hätte Dr. B. sich womöglich zu Tode gespielt, da er zu nichts anderem mehr in der Lage war: »[...] und ich tat nichts anderes mehr von morgens bis nachts« (84). Er selbst verwendet den Neologismus der »Schachvergiftung« (85), um seinen damaligen Zustand zu benennen.

Metaphorisch spricht Dr. B. von einem »Schleier des Entzückens« (87), als er erkannte, dass seine Isolationshaft vorbei war und Menschen ihm wohlgesinnt waren. Sein Wahn hatte zu einem »Fieber« (89) geführt. Es lässt sich annehmen, dass der Arzt ihn für unzurechnungsfähig erklärte und er aufgrund seines seelischen Zustandes entlassen wurde (vgl. 91).

Veröffentlicht am 5. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 5. September 2023.