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Die Küchenuhr

Interpretation

Gegenstand und Zeichen

»Die Küchenuhr« ist wiederholt als Ding-Geschichte bezeichnet worden. Tatsächlich ist der in ihr wiedergegebene Vorgang das unaufgeforderte Herzeigen und Erläutern eines Gegenstandes. In dem spärlichen Inventar der Kurzgeschichte kann es an Komplexität nichts mit ihrem zentralen Objekt aufnehmen: weder die anderen Gegenstände – die Bank, der Kinderwagen, die Schuhe des Mannes, die Sonne – noch die Figuren. Auch die Beschreibung des jungen Mannes, so suggestiv sie auch sein mag (altes Gesicht, jugendlicher Gang), bleibt weit hinter der Beschreibung der Uhr zurück. Komplexität gewinnt der Hauptcharakter der Kurzgeschichte nur dank der und durch die Uhr.

Dinge – zumal Gebrauchsgegenstände – haben etwas mit Körpern zu tun. Funktionstüchtig sollte die Uhr nicht angefasst, sondern nur angeschaut werden. Dabei zeigt sie dem körpereigenen Rhythmus der Mahl- und der Schlafens- und Wachzeiten Referenzpunkte an: Die Uhr sieht an den wiederkehrenden Tages- und Nachtzeiten, beim Aufstehen, beim Heimkommen, beim Frühstück oder Mittagessen, gleich oder ähnlich aus. Die Formation der Zeiger gewinnt eine mit der Tages- oder Nachtzeit assoziierte Physiognomie, einen Ausdruck, der etwas mehr ist als die bloße Information über die Uhrzeit.

Wenn der junge Mann die Küchenuhr vorzeigt, ist sie aus ihrem Funktionskontext bereits herausgelöst worden. Das hat der Bombeneinschlag bewirkt, der außerdem die Mechanik der Uhr zerstört zu haben scheint. Die Küchenuhr ist ohne Küche, ja ohne Haus übriggeblieben. Die Rhythmen des täglichen Lebens, denen sie zur Anzeige diente, sind unterbrochen – ja die meisten Menschen, die sie benutzten, tot. Wenn der junge Mann nicht im Elend endet, wird er bald wieder eine Küche nutzen können, in der die Uhr Platz fände (sofern sie sich reparieren ließe); in der Beschreibung, die der junge Mann von seiner gegenwärtigen Lage macht, gibt es eine solche Perspektive aber nicht. Die Uhr ist für ihn nichts als ein Rest.

Sie ist, wenn er sich auf die Bank setzt, sein einziges Attribut. Die Frau hat den Kinderwagen, der Mann hat seine Schuhe – er hat die Uhr. Während der Frau und der Mann ihre jeweiligen Gegenstände nur ansehen, unterhält der junge Mann zu seinem Gegenstand ein taktiles Verhältnis. Es wird – neben dem Hingehen und Hinsetzen, dem Ansehen und Kopfschütteln, dem In-der-Sonne-Sitzen und Wichtig-die-Unterlippe-Vorschieben – zum einzigen etwas außergewöhnlichen Anzeigefeld körperlichen Weltkontakts. Der junge Mann geht vorsichtig, ja zärtlich mit der Uhr um. Er »tupft[ ] mit dem Finger die blaugemalten Zahlen ab« (201) und »macht[ ] mit der Fingerspitze einen vorsichtigen Kreis auf dem Rand der Telleruhr entlang« (202). Offenbar hat er sich an ihre Materialität schon so sehr gewöhnt, dass er ihre Form unbewusst mit den Fingern nachvollzieht – wie man gedankenverloren das Band der Umhängetasche entlangfährt oder mit der Fingerspitze die Gruppierung der Tasten auf der Fernbedienung überprüft.

Ihrer ursprünglichen Funktion als beweglicher Zeitgeber verlustig gegangen, gewinnt die stehengebliebene Uhr als fixes, unveränderliches Zeichen eine neue Funktion. Dabei kommt es zu metonymischen, synekdochischen und metaphorischen Verhältnissen zwischen Zeichen und Bezeichnetem.

Metonymisch ist das Verhältnis zwischen der Uhr und dem Bombeneinschlag. Zwar weist der junge Mann den Erklärungsversuch des Mannes, der diesen kausalen Zusammenhang etabliert, zurück; doch er setzt keine andere kausale Begründung an dessen Stelle, sondern er stiftet einen anderen, nicht-kausalen Zusammenhang zwischen der angezeigten Uhrzeit und einer bestimmten Erinnerung. So bleibt die kausale Erklärung des Mannes einzig stehen.

Synekdochisch ist das Verhältnis der Uhr zu dem zerstörten Elternhaus, insofern sie als einziges von diesem übriggeblieben ist. Reste haben immer die Tendenz, die größere Menge, aus der sie hervorgegangen sind, zu repräsentieren. Das Verhältnis ist das von Teil und Ganzem.

Für den jungen Mann ist die Identität des Aussehens der Uhr jetzt und, in der Vergangenheit, zum Zeitpunkt seines nächtlichen Heimkommens entscheidend. Es gibt zwischen beiden Zuständen der Uhr abgesehen von dieser Identität keinen Zusammenhang. Die Formulierung: »Das ist ja gerade der Witz« (202), suggeriert dennoch so etwas wie Intentionalität – mit einem undefinierten Schicksal als Akteur. Der junge Mann hat sich aufgefordert gesehen, die angezeigte Uhrzeit zu deuten, und er hat, seiner Meinung nach, die richtige Deutung gefunden, hat den »Witz« verstanden.

Dennoch treffen sich diese, auf einer zufälligen Identität beruhende Bedeutungszuschreibung und das synekdochische Zeichenverhältnis darin, dass auch die sich wiederholende Szene der nächtlichen Heimkunft als Teil des häuslichen Familienlebens dessen Gesamtheit nun zu repräsentieren scheint: So wie die Uhr als einziges von dem Elternhaus übriggeblieben ist, so ist es auch die Erinnerung an das nächtliche Heimkommen, die als einziges von dem jungen Mann den Fremden erzählt wird.

Metaphorisch funktioneren drei Zeichenverhältnisse. Der junge Mann gebraucht die Uhr wie ein Gesicht, wie ein menschliches Gegenüber also, an das er sich wenden kann. Grundlage ist hier allein die ähnliche Form, nicht auch die angezeigte Uhrzeit.

Vermenschlichend ist außerdem seine Formulierung, die Uhr sei innerlich kaputt: Hier bietet es sich an, ihn selbst als Referenten einzusetzen: Auch er ist innerlich kaputt, an der Oberfläche aber noch intakt.

Das Wort Paradies aber, das die Bedeutungsgebung zusammenfasst und abschließt, funktioniert als Tropus zweiter Ordnung: Es bezieht sich nicht mehr direkt auf die Uhr (der durchaus nichts paradiesisches anhaftet), sondern schon auf das, wofür die Uhr gestanden hatte – die nächtlichen Heimkünfte – und wofür diese nächtlichen Heimkünfte gestanden hatten – das Leben in der mütterlichen Fürsorge.

 

Trauma und Mitteilung

Wie viele der Erzählungen Borcherts hat »die Küchenuhr« unsagbares Leid zum Thema. Unsagbares Leid – das ist für die Literatur, für die Kunst ein Problem. Der griechische Maler Timanthes wurde dafür gerühmt, dass er, auf einem Bild von der Opferung der Iphigenie, nachdem er alle Grade der Trauer bei den übrigen Beistehenden bereits zur Darstellung gebracht hatte, Agamemnon, den als Vater betroffenen, sein Gesicht verhüllen ließ, und damit eingestand, das äußerste Leid in dem Medium der Malerei nicht darstellen zu können (vgl. Plinius, 35, 73). Der junge Mann aus Borcherts Kurzgeschichte wird nicht, während er seinen Verlust erleidet, beobachtet, sondern er geht selbst auf eine Gruppe fremder Leute zu, um ihnen etwas mitzuteilen.

Was ist in einem Fall wie dem seinen mitteilenswert und zur Mitteilung überhaupt geeignet? Zunächst ist es der unwahrscheinliche Fund, das Wunder inmitten der Zerstörung – die heilgebliebene Madonnenfigur, das aus den Trümmern des erdbebenzerstörten Hauses noch lebend geborgene Kind – hier nichts weiter als die äußerlich unversehrt gebliebene Küchenuhr. Dann ist es eine Erkenntnis über den Wert eines damals, vor dem Verlust, für selbstverständlich gehaltenen Vorgangs. Der Verlust hat eine positive Umwertung verursacht, die übertragbar ist: Gerade wenn seine Zuhörer die Erfahrung seines Verlusts nicht teilen, kann ihnen seine Erzählung nützen, denn dann können sie die Umwertung vor einem möglichen Verlust vornehmen. Genau dieser Vorgang der Übertragung scheint auch – so bezeugt es der letzte Satz – zu funktionieren. Es versteht sich, dass der Mann, der an das Wort Paradies denkt, nicht eigentlich einer Vorstellung des irdischen oder himmlischen Paradieses nachhängt, sondern an einen konkreten, vergangenen oder gegenwärtigen Umstand aus seinem Leben denkt, der in analoger Weise neu von ihm bewertet und als Paradies aufgefasst werden kann.

Insofern dies alles zutrifft, handelt es sich um eine trostreiche, kraftgebende Geschichte. Doch trostreiche Geschichten über unsagbares Leid setzen sich dem Verdacht aus, ihren eigentlichen Gegenstand – das unsagbare Leid – zu verfehlen, ja unbillig zu verharmlosen. Tatsächlich fällt die Bilanz der »Küchenuhr« gemischt aus. In der Wahrnehmung des jungen Mannes selbst geht sein Mitteilungsversuch ins Leere. Er sucht den Blickkontakt seiner Mitmenschen, und findet ihn nicht; er beendet seine Mitteilung mit einer in die Sinnlosigkeit zu driften drohenden Wiederholung von schon Gesagtem und fällt in Schweigen.

Das letzte, was über ihn gesagt wird, ist: »Aber er hatte ein ganz altes Gesicht.« (204) Diesem alten Gesicht vom Beginn der Kurzgeschichte fehlt jetzt, an ihrem Ende, der Widerpart des jugendlichen Ganges. Die Endgültigkeit der Charakterveränderung, die mit der Formulierung ausgedrückt ist, wird so bestätigt. Der Mitteilungsversuch hat nichts geändert.

Veröffentlicht am 7. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 7. September 2023.