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Die Küchenuhr

Absatz 1

Zusammenfassung

Ein junger Mann von zwanzig Jahren geht auf eine bereits von mehreren Leuten besetzte Bank zu. Er fällt diesen Leuten auf. Sein Gesicht sieht aus wie das eines alten Mannes, doch sein Gang verrät seine Jugend. Er trägt etwas in der Hand und zeigt es den Leuten.

Analyse

Vor Einsatz und nach Beendigung des Gespräches auf der Bank gibt es jeweils einen Absatz ohne direkte Rede. Dieser erste Absatz hat die Funktion, die Situation zu umreißen, in der das Gespräch stattfindet. Er besteht aus drei Sätzen.

Subjekt des ersten Satzes sind die pronominal zusammengefassten Leute, die auf der Bank sitzen. Dadurch, dass ihre Wahrnehmung geschildert wird, nimmt der Leser automatisch ihre Perspektive ein. Sie sind die statischen Elemente, der junge Mann ist das bewegliche Element. Sein Sich-zu-ihnen-Setzen wird als ein ihnen zustoßendes Ereignis perspektiviert. Ein anderer Anfang etwa wäre: »Er sah sie schon von weitem auf einer Bank sitzen. Ihnen wollte er sie zeigen. Usw.«

Die Knappheit der Informationen zwingt zur Beachtung jedes Details. Was für eine Bank ist das? Offenbar hat man von ihr aus eine bequeme Aussicht auf einen Weg, auf dem man zu ihr gelangen kann. Die Sonne scheint auf die Bank (vgl. 201), sie steht also im Freien (nicht etwa in einer U-Bahn-Haltestelle, unter einem Bahnhofsdach oder im Wartezimmer eines Zahnarztes). Etwas merkwürdig ist, dass der Mann, obwohl er sich zu den Leuten auf die Bank setzt, sie der Reihe nach ansehen (vgl. 201), ja verlegen von einem zum anderen lächeln kann (vgl. 203). Beugt er sich dazu weit vor? Beschreibt die Bank eine Kurve? Jedenfalls ist sie deutlich begrenzt und keine Endlosbank, wie es sie in manchen städtischen Parks gibt, denn es heißt einmal: »Auf der Bank war es ganz still.« (203) Die gesamte Bank – das heißt alle auf der Bank sitzenden Leute sind in das Gespräch involviert.

Das Personalpronomen der dritten Person Plural, mit dem die Kurzgeschichte beginnt, kann nur bedingt aufgeschlüsselt werden. In Absatz fünf werden das erste Mal einzelne Personen bezeichnet. Es gibt einen Mann, der auf seine Schuhe sieht, eine Frau mit Kinderwagen und noch jemanden, der etwas fragt (vgl. 202). Der bestimmte Artikel, mit dem die Frau eingeführt wird (» […] und die Frau sah in ihren Kinderwagen« – 202) lässt darauf schließen, dass sie die einzige Frau ist, die auf der Bank sitzt. Auf sie wird weiterhin anhand des Appellativums mit bestimmtem Artikel referiert (»Dann fragte die Frau: […]?« – 203). Wenn es aber heißt: »sagte der Mann« (202), ist die Zuordnung nicht so einfach. Es könnte der »jemand« gemeint sein, oder der auf seine Schuhe blickende Mann. Die größere textliche Nähe spricht für den »jemand«, allerdings erlaubt dieses Pronomen streng genommen keine Rückschlüsse über das Geschlecht der gemeinten Person (wenn wir auch schließen konnten, dass nur eine Frau auf der Bank sitzt, dass der »jemand« also männlich sein muss); insofern wäre doch wahrscheinlicher, dass die als Mann ausgewiesene Person der Referent ist. Nachdem der junge Mann auf den Mann geantwortet hat, schaut er »die anderen« (202) an. Es müssen also außer ihm mindestens vier Personen auf der Bank sitzen: die Frau, der Mann, der auf seine Schuhe sieht, »jemand«, und noch jemand, um den Plural – »die anderen« – zu rechtfertigen. Nach der Erzählung des jungen Mannes kommt noch einmal die Frau zu Wort. Im letzten Absatz aber heißt es: »Und der Mann, der neben ihm saß, sah auf seine Schuhe.« (204) Wenn dort nur stünde: »Und der Mann sah auf seine Schuhe«, wäre die Sache eindeutig, dann hätten wir es mit dem oben schon mit bestimmtem Artikel geführten Mann zu tun. Der Relativsatz allerdings könnte auch zur Einführung einer bisher unerwähnten Person dienen.

Fünf oder mehr Leute auf einer Bank – das ist viel und eher ungewöhnlich, wenn sie nicht auf den Bus, den Arzt oder ihren Aufruf auf dem Amt zu warten genötigt sind, wofür es hier keinerlei Anzeichen gibt. Es müsste also ein gut besuchter, ja nahezu überfüllter Park sein, in dem so wenig Bänke stehen, dass die Spaziergänger ihre Scheu, sich zu Fremden zu setzen, notgedrungen ablegen. Es ist davon auszugehen, dass die Sitzenden dem dazukommenden jungen Mann Platz machen, das heißt enger zusammenrücken mussten.

Offenbar kümmern den Erzähler diese Details aber nicht. Ja, man könnte angesichts der nur angedeuteten Szenerie und der leichten Unstimmigkeiten darin (Wie kann der junge Mann die Augen aller anderen suchen, wenn er mit ihnen in eine Richtung blickt? Was ist mit dem Baby? Schläft es? Muss es beruhigt werden?) auf die Vermutung kommen, es gehe ihm gar nicht darum, eine realistische Szenerie zu evozieren, sondern die Bank sei als ein abstrakter Ort anonymer Begegnung eingesetzt. Vielleicht kommt dem Text die Vorstellung am nächsten, die Bank befinde sich nicht in einem Park, sondern auf einer leeren Theaterbühne; ein besonders eingestellter Scheinwerfer suggeriert Sonnenlicht, vier fünf Leute sitzen müßig darauf – darunter eine Frau mit einem leeren, für den Zuschauer uneinsichtigen Kinderwagen –, dann tritt der junge Mann auf und setzt sich dazu.

Der junge Mann fällt auf, heißt es zur Begründung der Tatsache, dass die auf der Bank Sitzenden ihn schon von weitem auf sich zukommen sehen. Warum er auffällt, wird nicht gesagt. Der nächste Satz enthält keine kausale Konjunktion, kann also, muss aber nicht in einem direkten Zusammenhang mit dem Auffallen stehen. Genau so gut möglich, ja wahrscheinlicher ist, dass er wegen der Küchenuhr auffällt, die er in der Hand hält.

Der zweite Satz führt in die Erscheinung des jungen Mannes den Gegensatz zweier Lebensalter ein. Dabei gibt es eine eindeutige Zuordnung: sein Gang ist der eines Zwanzigjährigen, sein Gesicht aber »ein ganz altes« (201). Während wegen des Ganges eine einfache Beobachtung angestellt wird, ist die Rede von einem »ganz alte[n]Gesicht« figürliche Rede. Körperteilen wird normalerweise – es sei denn, es handelt sich um Prothesen (meine linke Hüfte ist erst zwei Jahre alt) – kein eigenes Alter zugestanden. Ein Alter hat nur die Person insgesamt. Wenn gesagt wird: Sie hat kindliche Hände, oder: Seine jungenhafte Brust, dann wird eine Differenz bezeichnet, die zwischen dem tatsächlichen Alter der gemeinten Person und einem bestimmten äußeren Merkmal besteht: Sie ist vierzig, aber sie hat noch immer kindliche Hände. So bei einzelnen Körperteilen, bei Händen, Hüften, Beinen etc. Wenn aber von dem Gesicht die Rede ist, liegt die Sache noch etwas anders. Hier liegt eine weitere tropische Verschiebung nahe – dass nicht das Gesicht in seiner physiologischen Beschaffenheit gemeint ist, sondern der Gesichtsausdruck. Von einem Zwanzigjährigen zu sagen, er habe ein »ganz altes Gesicht« suggeriert, (wenn nicht doch auf eine physiologische Kuriosität angespielt wird – wie man bisweilen in Neugeborenen etwas Greisenhaftes sehen kann), dass der Gesichtsausdruck eines ganz alten Mannes nicht nur flüchtig auf seinem Gesicht liegt, sondern zu seinem einzigen und permanenten Gesichtsausdruck geworden ist, von dem eine Abweichung kaum noch vorstellbar ist.

Als Grund für eine vorzeitige Alterung des Gesichts kommt also streng genommen nur ein permanentes Unglück, eine dauerhafte Freudlosigkeit in Frage; es sei denn, die Beschreibung wird in hyperbolischem Sinne gebraucht, um nämlich auszudrücken, dass eine Einwirkung so heftig war, dass das, was normalerweise lange Zeit in Anspruch nimmt, in einem Moment geschah (über Nacht ergrauen): das Unglück hat die Erscheinung der Person und ihren Ausdruck mit einem Mal und unumkehrbar verändert.

Warum dann aber im Fall des jungen Mannes nicht auch seinen Gang? Bei der Gegenüberstellung von Gesicht und Gang handelt es sich ja, wie die Analyse gezeigt hat, durchaus nicht um die Gegenüberstellung eines beweglichen, dem Willen stärker unterworfenen und eines mehr unwillkürlichen, habituellen Teiles der äußeren Erscheinung. Der Gesichtsausdruck ist leichter veränderbar als der Gang; das Gesicht aber ist ähnlich schwer veränderbar wie der Gang, oder sogar noch schwerer veränderbar. Wenn das Unglück also das Gesicht verändern konnte, warum nicht auch den Gang? Oder muss man die Stelle so verstehen: Der Mann forciert einen jugendlichen Gang, aber das Gesicht verrät sein inneres Alter? Das würde dem Rest der Kurzgeschichte vielleicht eher entsprechen – die Formulierung aber setzt den Gang gerade als das Unkontrollierte, das dem Beobachter den Rückschluss auf das wahre Alter erlaubt (»aber wie er ging, daran sah man, daß er erst zwanzig war« – 201).

Der vierte und letzte Satz des ersten Absatzes dient als spannungserzeugender Doppelpunkt. Erst jetzt wird dem Leser mitgeteilt, dass der junge Mann etwas »in der Hand trug« (201). Der unvorbereitete, ankündigende, das Gemeinte meist noch nicht spezifizierende Satzbeginn »Und dann … « ist, zumindest in seinen Zuspitzungen (»Und dann geschah es: […].«, »Und dann passierte, womit niemand gerechnet hatte: […].«) ein Stilmittel eines eher niedrigen, ja trivialen Registers. Hier führt er aus dem ersten, gewissermaßen die Bühnenanweisungen enthaltenden Absatz hinaus in die Handlung, also den Dialog.

Veröffentlicht am 7. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 7. September 2023.