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Die Küchenuhr

Absatz 16-20

Zusammenfassung

Die Frau mit dem Kinderwagen erkundigt sich nach der Familie des jungen Mannes. Der antwortet verlegen, seine Eltern seien auch weg. Sein verlegenes Lächeln beantwortet niemand. Er hebt noch einmal die Uhr hoch und wiederholt, was er von ihr schon gesagt hat, dass sie übrig sei, und dass das Schönste sei, dass sie ausgerechnet um halb drei stehengeblieben sei.

Damit endet das Gespräch. Der Mann neben ihm schaut auf seine Schuhe und denkt immerfort an das Wort Paradies.

Analyse

Der Schluss der Erzählung variiert verkürzend schon bekanntes Material.

Die Frage nach der Familie entspricht der Frage, ob der junge Mann alles verloren habe und seine Antwort der Antwort von da (»denken Sie, aber auch alles!« – »Alles, stellen Sie sich vor«). Sein suchendes Umherblicken hat jetzt den Zusatz des Lächelns. Das Hochheben ist bekannt, genau wie das Lachen. Mit einer Wiederholung schon geäußerter Sätze beendet der junge Mann das Gespräch: »Dann sagte er nichts mehr« (204) – dieser Satz ist neu und kann deshalb tatsächlich den Abschluss der Interaktion markieren. Etwas rätselhaft ist das »Aber«, das den Folgesatz einleitet: »Aber er hatte ein ganz altes Gesicht.« (204) – so als hätte der Leser erwartet, dass das Gespräch ihm das alte Gesicht vom Beginn der Kurzgeschichte genommen hätte. Die Wiederholung ist dabei auch eine Veränderung, denn jetzt fehlt der Widerpart des jugendlichen Ganges.

Auch die letzten drei Sätze rekombinieren schon bekanntes Material. Neu ist die Information über die genaue Position des Mannes (»der neben ihm saß« – 204), aber das Auf-die-Schuhe-Blicken ist so bekannt wie das Wort, an das er denkt, das Paradies.

Trotz der Bekanntheit der Wörter und der Formulierungen gibt es aber in den letzten drei Sätzen einen radikalen Bruch mit den Bedingungen der übrigen Kurzgeschichte. Er betrifft die Ebene der Fokalisierung, also der selbstauferlegten Informationsbeschränkung des Erzählers. Wie gesagt, bringt der erste Absatz den Leser in die Wahrnehmungsperspektive der auf der Bank Sitzenden. Während des Gesprächs ändert sich das: Es gibt Anzeichen einer internen Fokalisierung auf den jungen Mann, denn nur aus der Perspektive seiner Gedanken und Gefühle ergeben die Redefiguren vom Finden der anderen und von dem Sprechen zur Uhr wie zu einem Gesicht Sinn. Bei dem einen wie bei dem anderen handelt es sich um feine Signale, die nicht verhindern können, dass insgesamt der Eindruck einer externen Fokalisierung überwiegt, bei der er Erzähler also nur das widergibt, was er als ein unbeteiligter Beobachter (gleichsam als Filmkamera) ohne persönliche Kenntnis der Figuren wahrnehmen könnte.

Mit dieser Einstellung wird am Schluss der Kurzgeschichte gebrochen, denn es wird das erste Mal mitgeteilt, was eine Figur dachte. Diese auf der Ebene der Fokalisierung angelegte Pointe darf eine Interpretation nicht missachten. Die Beklemmung, die die Kurzgeschichte bewirken mag, hat ihre Ursache auch in dem kalten, nämlich weitgehend extern fokalisierten ›Blick‹ des Erzählers. Das Gespräch, das der junge Mann mit den Leuten auf der Bank initiiert, läuft ins Leere, läuft in die Wiederholung und dann in die Stille. Es gibt kein Verstehen, keinen Trost, keine materielle Hilfe, nicht einmal Tadel oder Ärger über seine Aufdringlichkeit – allenfalls eine allgemeine, stumm machende Betroffenheit. Wirklich? Der Schluss der Kurzgeschichte stellt diesem Befund das Zeugnis einer dennoch stattfindenden Verständigung, ja einer Veränderung entgegen, die der junge Mann mit seiner Geschichte bei einem der Fremden bewirkt hat. Augenscheinlich hat seine Geschichte eine ähnliche Struktur wie die des jungen Mannes, und offenbar ist die Fokussierung des glücklichen, vergangenen Zustandes und seine offene Wertschätzung, die sich in dem Wort Paradies ausdrückt, etwas Neues für den Mann, der vielleicht andere Strategien des Umgangs mit dem radikalen Verlust entwickelt hat – ja vielleicht, wenn er mit dem Mann des Erklärungsversuches identisch ist, die Strategie eines kalten, technischen, rationalen Blicks auf alle Dinge.

Die Modifikation der erzählerischen Grundeinstellung am Schluss zwingt zu einer widersprüchlichen Bewertung des Gespräches. Einerseits ist der Mitteilungsversuch des jungen Mannes gescheitert: Er nimmt von dem, was er bei dem Mann ausgelöst hat, nichts mehr wahr; andererseits ist er es nicht, denn er hat etwas bewirkt, denn es hat eine tiefergehende Verständigung über sein Schicksal und das des Fremden gegeben.

Veröffentlicht am 7. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 7. September 2023.