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Die Küchenuhr

Zitate und Textstellen

  • »Das ist ja gerade der Witz.«
    – Der junge Mann, 202

    Die Wendung markiert den ›springenden Punkt‹ in einem Sachverhalt, denjenigen Umstand, der die Erzählung des Sachverhalts überhaupt motiviert und den zu verstehen für das Verständnis des Ganzen unerlässlich ist. »[D]er Witz« (202) ist hier die auf der geborgenen, stehengebliebenen Küchenuhr angezeigte Uhrzeit, die mit der Zeit korrespondiert, zu der der Erzähler nachts »immer« (202) nach Hause kam.

    Die Wendung, ›etwas sei gerade der Witz‹, gehört in ein lockeres, mündliches, eher lustiges Register – obwohl mit dem Wort ›Witz‹ nichts gemeint sein muss, das zum Lachen anregen soll. Die Diskrepanz zu dem Schicksal, das den jungen Mann betroffen hat, ist offensichtlich. Seine Zuhörer werden, wenn sie höflich sind, dieses Register nicht auch bedienen.

  • »Um halb drei war ganz etwas anderes, das wissen Sie nur nicht.«
    – Der junge Mann, 202

    Grundsätzlich kann die angezeigte Uhrzeit zwei Referenten haben, halb drei Uhr nachmittags und halb drei Uhr nachts. Wenn der junge Mann sie mit der nächtlichen Uhrzeit identifiziert, vereindeutigt er also bereits das auf der Uhr angezeigte Zeichen. Genauso entscheidet er sich gegen die von dem Mann vorgeschlagene, plausiblere Vereindeutigung: Die Uhrzeit sei wahrscheinlich mit der des Bombeneinschlags identisch. Während dieses ein singuläres Ereignis darstellt, ist das Ereignis, das der junge Mann meint, ein häufiges, in gleicher Form immer wiederkehrendes.

  • »Er lächelte sie verlegen an: Ach, Sie meinen meine Eltern?«
    – Erzähler, der junge Mann, 203

    Der junge Mann hat sich entschlossen, einen bestimmten Umstand, der mit der wiedergefundenen Uhr zusammenhängt, fremden Leuten zu berichten. Diesen arbeitet er sorgfältig heraus, wie seine Erzählung zeigt, diesen möchte er verstanden wissen. Der Umstand steht mit dem Verlust, den er erlitten hat, in direktem Zusammenhang, dennoch ist er nicht der Verlust selbst. Auf den Verlust als solchen angesprochen reagiert er kurzangebunden, verlegen, ja zu Beginn freudig. Es ist leichter zu sagen, »Alles ist weg« (203), als zu sagen: ›Meine Mutter ist tot.‹

  • »Und meistens immer um halb drei.«
    – Der junge Mann, 203

    Während die Uhrzeit als Uhrzeit des Bombeneinschlags interpretiert eine exakte Uhrzeit wäre – der Bombeneinschlag hätte unmittelbar das Stillstehen der Uhr ausgelöst –, fällt mit Blick auf die nächtliche Uhrzeit der Heimkünfte eine Restunschärfe auf. Weniger als die genaue Markierung eines bestimmten Moments im Tags- und Nachtverlauf ist sie ein gerundetes Mittel unzähliger, knapp vor oder hinter halb drei liegender Heimkünfte.

  • »Da sagte der Uhr leise ins weißblaue Gesicht: […].«
    – Erzähler, 203

    Weil er den Blickkontakt zu den anderen Leuten auf der Bank nicht herstellen kann, wird die Uhr selbst für ihn zur Person, der er sich mitteilen kann. Gesichtähnlich macht die Uhr bereits ihre runde Form, weniger ihre Farbigkeit. Aber die Stellung der Zeiger kann leicht physiognomisch aufgefasst werden und ein Gutteil der Assoziation mit den nächtlichen Heimkünften wird von dem visuellen Eindruck herrühren, den die Uhr auf ihn immer gemacht hat. Hier knüpft die Erinnerung an – mehr als an dem eigentlichen Faktum der identischen Uhrzeit.

  • »Sie sahen ihn schon von weitem auf sich zukommen, denn er fiel auf.«
    – Erzähler, 201

    Warum der junge Mann auffällt, wird nicht eindeutig gesagt. Ist es die Diskrepanz zwischen seinem Gesichtsausdruck und seinem Gang? Ist es die Tatsache, dass er eine Küchenuhr in der Hand hält? Noch mehr ist freilich denkbar: Denn wie wird jemand umhergehen, der gerade »Alles« (202) verloren hat – wie gekleidet, wie gepflegt?

  • » […] die auf der Bank in der Sonne saßen.«
    – Erzähler, 201

    Dass die Leute in der Sonne sitzen, ist der einzige Hinweis auf den Grund ihres Dasitzens. Es gibt so eine gewisse Suggestion von Müßiggang und einer parkähnlichen Umgebung. Eher unwahrscheinlich erscheint vor dem Hintergrund dieses Relativsatzes, dass die Leute auf etwas bestimmtes warten. Auch, dass die Bank im Freien steht, wird erst hier gesagt.

  • »Innerlich ist sie kaputt, das steht fest.«
    – Der junge Mann, 201f.

    Das Adverb trägt zur Anthropomorphisierung der Uhr bei – es kann eigentlich nur im Bezug auf Menschen gebraucht werden. Auf Menschen angewandt wiederum wäre der Satz besonders drastisch, weil das Adjektiv ›kaputt‹ – abgesehen von einer umgangssprachlichen Verwendung im Sinne von ›erschöpft‹ – nur auf Dinge angewandt wird. Entweder also ein Gegenstand wird mit dem Satz vermenschlicht, oder ein Mensch vergegenständlicht. Unterläuft dem jungen Mann eine Selbstaussage? Der Schluss liegt nahe – gut möglich, heißt das, dass er Selbstaussagen im Moment nur über den Umweg der Uhr machen kann.

  • »Und sie machte ihre Augen ganz klein, weil ihr das Licht so hell war.«
    – Der junge Mann, 203

    Nichts wäre verkehrter, als in dem nächtlichen Hell-Dunkel eine symbolische, übertragene Bedeutung zu suchen. Entscheidend ist, dass der junge Mann jetzt, bei der Nacherzählung, sich in liebevoll-fürsorglicher Weise an die Beschwerden erinnert, die seine Mutter auf sich genommen hatte, um ihm das Abendessen warm zu machen. Das Dunkle ist hier das Angenehme, Natürliche – das grelle Licht das Unnatürliche, ja Schmerzhafte: das unzeitige Aufwachen, das ihr Sohn ihr aufzwingt.

  • »Das habe ich schon oft gehört.«
    – Der Mann, 202

    Die zeitliche Nähe zu seinem Verlust, die aus dem Verhalten des jungen Mannes zu sprechen scheint, und diese Aussage des Mannes, lassen darauf schließen, dass die Kurzgeschichte im Krieg spielt. In merkwürdigem Kontrast dazu steht die Szenerie der in der Sonne liegenden (Park-)Bank und der darauf müßig herumsitzenden Leute. Natürlich stehen auch im Krieg Bänke in der Sonne und natürlich werden sie auch dann von Passanten benutzt – doch aufgrund der Reduziertheit der Szenerie gewinnt die Bank eine so große Bedeutung, dass sie kaum als kleiner Ausschnitt einer kriegsversehrten Stadt wahrgenommen werden kann, sondern eine Stellvertreterfunktion für die ganze Gesellschaft innezuhaben scheint.

  • »Er dachte immerzu an das Wort Paradies.«
    – Erzähler, 204

    Es ist der einzige Gedankenbericht der gesamten Kurzgeschichte. Mit dem Wort Paradies hatte auch ihr Mittelabschnitt geschlossen. Dieser Schluss wird für die gesamte Kurzgeschichte übernommen – aber in neuer Perspektive. Dass das Wort als zentraler Signifikant von dem jungen Mann zu dem anderen Mann gewissermaßen übergewandert ist, stellt dann doch ein Gelingen des aus seiner Perspektive gescheiterten Mitteilungsversuches dar.

Veröffentlicht am 7. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 7. September 2023.