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Die Küchenuhr

Absatz 13-15

Zusammenfassung

Als der junge Mann ansetzt, zu erklären, warum die Uhrzeit halb drei für ihn so bedeutsam ist, sucht er mit den anderen auf der Bank Blickkontakt, findet aber keinen. Also richtet er seine Erzählung an die Uhr. Er erzählt, dass er jede Nacht gegen halb drei Uhr nach Hause gekommen sei, und in der dunklen Küche nach etwas zu essen gesucht habe. Trotz seiner Bemühungen, Geräusche zu vermeiden, sei jede Nacht seine Mutter aufgewacht und barfuß, in Wolljacke und rotem Schal zu ihm in die Küche gekommen, habe das Licht angemacht und das Abendessen für ihn warm gemacht. Das einzige, was sie immer gesagt habe, sei: »So spät wieder«, gewesen. In der gefliesten Küche sei es kalt gewesen, und sie habe die Füße aneinander gescheuert. Noch wenn er schon in seinem Zimmer gewesen sei und bei sich das Licht gelöscht habe, habe sie die Teller weggesetzt. Er habe geglaubt, so müsste das immer weitergehen.

Nach einem Moment des Innehaltens auf der Bank fragt der junge Mann, was jetzt sei. Wieder sucht er vergeblich nach Blickkontakt und sagt dann an die Uhr gerichtet, er habe jetzt verstanden, dass dies das Paradies gewesen sei, das richtige Paradies.

Analyse

Antithetische Verhältnisse bestimmen auch die zentrale Erzählung der Kurzgeschichte. Zwar missbilligt die Mutter die späten Heimkehrten ihres Sohnes und lässt es sich nicht nehmen, das noch jedesmal zum Ausdruck zu bringen; trotzdem steht sie aber unaufgefordert, ja gegen den Willen ihres Sohnes, der sich in dem Bemühen ausdrückt, sie nicht zu wecken, auf, versorgt ihn mit dem Abendessen und bleibt, um aufzuräumen, länger in der Küche als er. Hier gibt es also eine Spannung zwischen einem folgenlos bleibenden Tadel oder wenigstens einem Bedauern, und der überschüssigen, nicht eingeforderten und nicht mehr notwendigen Fürsorge, die deswegen doch nicht unterlassen wird.

Einerseits zieht sich die Mutter eine Wolljacke und einen roten Schal an, wenn sie in die gekachelte Küche geht, andererseits ist sie nicht bereit, nachts, wenn sie schon geschlafen hat und sich gleich wieder hinlegen wird, auch noch Schuhe anzuziehen. Also friert sie an den Füßen, die sie aneinander scheuert, um etwas Wärme zu erzeugen. Dies Frieren, das sie nicht verbirgt, kann der Sohn als Vorwurf verstehen, oder wenigstens als Vorsatz, die Normalität des nächtlichen Aufstehens nicht zu akzeptieren und ihr die eigenen Gewohnheiten nicht anzupassen (also Schuhe anzuziehen).

Eine ähnliche Widersprüchlichkeit bestimmt das Verhalten des Sohnes. Einerseits äußert sich seine Fürsorge für die Mutter darin, dass er sich bemüht, sie nicht zu wecken (»Ich konnte noch so leise die Tür aufmachen, […].« – 203); andererseits geht sie doch nicht so weit, dass er sie mit einem liebevollen Wort wieder ins Bett schickte oder gar seine Gewohnheit des nächtlichen Heimkommens (wenn es denn in seiner Macht stand, und nicht die Arbeit ihn dazu zwang) abstellte. Auch nimmt er den Tadel und die darin geäußerte Sorge hin, ohne sich genauer zu erklären.

Dies Leben in und das Aushalten von latenten Widersprüchen ist charakteristisch für tiefe Beziehungen, und so ist es besonders charakteristisch für die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern.

Die Erzählung (eine metadiegetische Analepse) ist durchgehend im iterativen Modus gehalten, das heißt es wird einmal, und durchaus szenisch, erzählt, was unzählige Male geschehen ist. Diese Erzählform eignet sich besonders zur Evokation der Charakteristik vergangener, mittlerweile als Einheit begriffener Lebensphasen (sie ist essentiell für Prousts Roman »À la recherche du temps perdu«). Es wird von keiner Ereignisfolge berichtet, die einen Zustand A mit einem anderen Zustand B verbände. Der iterative Modus garantiert im Gegenteil, dass, ungeachtet der kleinen Ereignisfolgen, die durchaus vorkommen können (wie das nächtliche Heimkommen), die Grenzen eines Zustandes A insgesamt nicht überschritten werden (denn genau diese Ereignisfolge gab es immer wieder). Diese Grenzen sind nach rückwärts hin undefiniert (denn wir wissen nicht, wann die Gewohnheit des nächtlichen Heimkommens begann), nach vorne hin könnte es sein, dass sie durch den Bombeneinschlag gebildet werden, möglich ist aber auch, dass der Zustand insgesamt weiter zurückliegt und nur jetzt, wegen der Küchenuhr, wieder ins Gedächtnis des jungen Mannes getreten ist.

Seine Erzählung bezeugt, was er als Erkenntnis an ihren Schluss setzt, dass die Selbstverständlichkeit, mit der er das Familienleben hingenommen hat, einer großen Wertschätzung und einer besonderen Aufmerksamkeit für seine Umstände und Details gewichen ist. So wie sich die Fürsorge der Mutter für den Sohn in dem nächtlichen Aufstehen und Essenmachen ausdrückte, drückt sich die Liebe des Sohnes zur Mutter nun in der Aufmerksamkeit aus, die er, im Rückblick, dem leiblichen Befinden der Mutter entgegenbringt. Das betrifft ihre Kleidung und ihre frierenden Füße, aber auch die unangenehme Wirkung des in der Nacht eingeschalteten, grellen Lichts.

Die Paradiesmetapher, mit der er seine Erkenntnis zum Ausdruck bringt – und dabei vermeidet, vom gegenwärtigen Zustand zu sprechen (»Und jetzt?« – war ja die Frage) –installiert in der Kurzgeschichte ein letztes Gegensatzpaar, wobei zwei unterschiedliche Gegenbegriffe möglich sind. Wenn das irdische Paradies des Garten Eden gemeint ist, liegt der Gegenbegriff auf einer zeitlichen Achse: Es ist das gewöhnliche, irdische Menschenleben, geprägt von Mangel, Arbeit und Scham, das das erste Menschenpaar nach der Vertreibung aus dem Paradies in Angriff nehmen muss. Ist hingegen das himmlische Paradies als eines der drei Jenseitsreiche gemeint, bildet die Hölle den systematischen Gegenbegriff. Die zeitliche Komponente, die in der ersten Möglichkeit enthalten ist, spricht für diese, wie auch der Umstand, dass der Austritt aus der familiären Geborgenheit oft als Vertreibung aus dem Paradies beschrieben wird. Doch möchte man ungern den gegenwärtigen Zustand des jungen Mannes mit dem allgemeinen Menschenlos, und lieber mit dem himmlischen Straflager der Hölle identifizieren.

Obwohl er mit seiner Erzählung die Aufmerksamkeit aller auf der Bank Sitzenden auf sich gezogen hat, findet er auch nach ihrem Abschluss ihre Blicke nicht. Der im Kern synekdochische Ausdruck: »Er fand sie nicht« (203), gibt der Suche nach Blickkontakt eine stellvertretende Bedeutung. Hier wird das Ganze für den Teil gesetzt, die Personen für ihre Blicke, und damit die innere Verlassenheit des jungen Mannes ausgedrückt.

Die eine Bedeutungsverschiebung bringt die andere mit sich. Weil er in den Fremden keine echten Gesprächspartner findet, richtet er sich auch mit seinem Resümee an die Uhr, der nun ein »weißblaue[s], runde[s] Gesicht« (203) zugesprochen wird. Damit erreicht die Anthropomorphisierung des zentralen Gegenstands ihren Höhepunkt.

Formal wäre noch darauf hinzuweisen, dass die Absatztrennung zwischen Absatz 13 und 14 in eine direkte Redewiedergabe fällt – das ist in dieser Kurzgeschichte einmalig und markiert die ungewöhnliche Ausdehnung der Binnenerzählung. Man soll in der Erzählung mit der Aufmerksamkeit einmal absetzen, und tun, wozu beim Lesen ein Absatz eben anregt: das Gesagte schon einmal zusammenfassen und der Erwartung an das Folgende Kontur geben.

Veröffentlicht am 7. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 7. September 2023.