Skip to main content

Die Küchenuhr

Absatz 2-12

Zusammenfassung

Der junge Mann hat eine weiß lackierte, auf halb drei Uhr stehengebliebene Küchenuhr mit blauen Zahlen und Blechzeigern in der Hand und zeigt sie den Leuten auf der Bank. Sie habe er gefunden, sie allein sei übriggeblieben. Er beschreibt sie und zeigt sie den Leuten wiederholt. Jemand äußert die Vermutung, er habe alles verloren, was er freudig bejaht. Eine Frau mit Kinderwagen verweist darauf, dass die Uhr kaputt ist. Er gibt an, sich dessen bewusst zu sein und kommt nun auf die angezeigte Uhrzeit zu sprechen – die sei das Schönste an der Uhr. Ein Mann äußert die Vermutung, das Haus des jungen Mannes sei wohl um halb drei Uhr getroffen worden; denn es sei oft vorgekommen, dass Uhren wegen des Drucks des Bombeneinschlags stehen geblieben seien. Der junge Mann wehrt diesen Erklärungsversuch aber ab; etwas anderes sei mit der Uhrzeit verknüpft, nämlich die Zeit seiner regelmäßigen nächtlichen Heimkehr. Das gerade sei der Witz.

Analyse

Wenn die Erzählung des jungen Mannes in den Absätzen 13-14 (die längsten Abschnitte der Kurzgeschichte), und vielleicht noch der resümierende Absatz 15 das Zentrum der Kurzgeschichte darstellen, dann erscheinen die vorangehenden Absätze als seine mehrfach gestaffelte Rahmung.

Vorgedrungen wird dabei nicht nach und nach in das Ausmaß der Katastrophe, die den jungen Mann befallen hat, sondern in die Bedeutungsebenen der Küchenuhr. Schon die erste verbale Reaktion auf die Auslassungen des jungen Mannes besteht in der richtigen Vermutung, dass dieser »alles verloren« hat, und die freudige Bestätigung der Vermutung seitens des jungen Mannes macht deutlich, dass in dieser Richtung nichts zu gewinnen ist: Er lenkt das Gespräch sofort wieder auf die Uhr.

Den Progress gibt es also mit Blick auf diese. Denn als er auf die müde Einlassung der Frau antwortet, die noch einmal zu bedenken gibt, dass die Uhr doch kaputt sei, bekommt seine Rede einen neuen Schwung: »Und was das Schönste ist, fuhr er aufgeregt fort, das habe ich Ihnen ja noch überhaupt nicht erzählt.« (202) Von der Uhr und ihrer Beschaffenheit als Zeichenträger geht die Aufmerksamkeit also auf das auf ihr angezeigte Zeichen über, die Uhrzeit.

Die als etwas wichtigtuerisch charakterisierte Erklärung des Mannes (»und schob wichtig die Unterlippe vor« – 202) bereitet im Kontrast die Erzählung des jungen Mannes in den Absätzen 13 bis 14 vor. Er wehrt den Erklärungsversuch ab und verbittet sich ausdrücklich das Reden von »den Bomben« (202). Dadurch, dass er die Uhrzeit, in Verbindung gesetzt mit ihrer eigentlichen Bedeutung, als den »Witz« vorstellt, der in der Sache liege, charakterisiert er indirekt den Erklärungsversuch des Mannes als schnöden Rationalismus, als Kurzsichtigkeit gegenüber den feineren, raffinierteren Zusammenhängen des Schicksals. Tatsächlich bleibt die Erklärung, die Uhr sei wegen der bei dem Bombeneinschlag entstandenen Druckwelle stehengeblieben, die wahrscheinliche.

Da die Kurzgeschichte zu einem Großteil aus direkter Rede besteht, muss zu ihrem besseren Verständnis die Kommunikationssituation ins Auge gefasst werden. Es handelt sich um Kommunikation unter Fremden. Auch zwischen den Leuten, die schon auf der Bank sitzen, scheint es kein engeres Verhältnis zu geben. Aus der Gruppe von mindestens fünf Personen löst sich kein hauptsächlicher Gesprächspartner des jungen Mannes heraus. Bis zuletzt richtet er sich an alle (»Er lächelte verlegen von einem zum anderen. Aber sie sahen ihn nicht an.« – 203). Die wiederholten Wortmeldungen der Frau mit dem Kinderwagen also nimmt er nicht zum Anlass, mit ihr das Gespräch zu vertiefen und die anderen aus der Ansprache zu entlassen. Schon allein auf Grundlage der Menge der in der Kommunikationssituation integrierten Personen – einer hier, fünf oder mehr Leute dort – handelt es sich um asymmetrische Kommunikation. Dies zeigt sich auch auf anderen Ebenen: Der junge Mann initiiert das Gespräch und er allein gibt sein Thema vor. Sobald er zu reden aufhebt – so muss der Schluss verstanden werden – erstirbt das Gespräch insgesamt.

Der junge Mann versetzt die Fremden durch seine Eröffnungen in eine unangenehme Lage, in der es – will man den Rahmen des Höflichen nicht verlassen – nur wenige Handlungsmöglichkeiten gibt. Er konfrontiert sie mit dem Verlust seiner sämtlichen nächsten Angehörigen und seines Elternhauses – so müsste »alles« (202) mindestens ausbuchstabiert werden. Wer so konfrontiert wird, kann sich berufen fühlen, selbst die Initiative zu ergreifen und zu versuchen, dem Betroffenen substanziell zu helfen – das heißt: ihn näher zu befragen, ihm materielle Hilfe anzubieten oder solche zu vermitteln, ihm Trost zu spenden, Zeit mit ihm zu verbringen. Es ist aber die Frage, ob der Betroffene solche Hilfe tatsächlich wünscht und annehmen könnte. Vorschneller Tatendrang könnte übergriffig, ja schamlos wirken. Sieht man sich zur substanziellen Hilfe aber nicht berufen, bleibt nicht viel übrig, als dem Betroffenen den Raum zu lassen, den er sich nimmt, und ihm mit zurückhaltender Bestätigung zu begegnen. Tröstende Worte, wenn sie als Floskeln aufgefasst werden müssen, weil keine Einsicht in das tatsächliche Ausmaß des Leides vorliegt, sind zu vermeiden.

Der junge Mann tut aber nun noch etwas mehr, als die Fremden nur mit der Katastrophe, die ihn betroffen hat, zu konfrontieren. Er hat sich aus dem katastrophalen Geschehen einen, ja den einzigen freudigen Aspekt herausgesucht – das glückliche Auffinden der stehengebliebenen Küchenuhr –, den er fokussiert hält und zum eigentlichen Gegenstand seiner Mitteilung macht. Von ihm her gewinnt er sein fröhlich-aufgeregtes Auftreten. Die Fremden nun können begreiflicherweise die Umgewichtung, die der junge Mann vollzieht – das Auffinden der Küchenuhr ist der besondere, der Verlust von Allem aber der selbstverständliche, kaum der Rede werte Umstand –, nicht mitmachen. Für sie muss die Katastrophe das Wesentliche bleiben, wie sie ja auch das Wesentliche ist. Dadurch wird ihre Möglichkeit begrenzt, ihre Höflichkeit dadurch auszudrücken, dass sie den Gedankengängen des ihnen Fremden bestätigend folgen. Tatsächlich wäre eine solche Bestätigung (­»Wie schön, dass Sie solches Glück hatten! Ich freue mich für Sie!«) respektlos.

Nimmt man diese Überlegungen zur Grundlage, sind die Wortmeldungen der Leute auf der Bank durchaus im Rahmen des Erwartbaren und Höflichen. Natürlich geht die erste Frage nicht auf die Beschreibung der Uhr ein, die der junge Mann vorzeigt, sondern auf die Implikationen seiner Aussage, sie allein sei übriggeblieben. Bei der Erinnerung der Frau mit dem Kinderwagen daran, dass die Uhr nicht mehr geht, hängt viel von dem Tonfall ab, mit dem sie spricht. Es kann ein einfühlsamer Versuch sein, den offenbar irrationalen Überschwang zu dämpfen, mit dem der Fremde seine Uhr hochhält. Es kann schroffer Pragmatismus daraus sprechen. Oder es kann als Wiederholung von etwas, das der junge Mann schon sagte, sich in der Funktion erschöpfen, ihn, ohne eigentlich etwas zu sagen, zum Weiterreden zu ermutigen – welche Funktion die Wortmeldung dann ja tatsächlich erfüllt.

Auch der Erklärungsversuch des Mannes kann als Versuch gewertet werden, die individuelle Erfahrung des jungen Mannes in einen allgemeineren Zusammenhang von Erfahrungen zu stellen und so dem Austausch zugänglicher zu machen. Was daran als kalt empfunden werden könnte – dass das individuelle Leid des jungen Mannes zugunsten eines rationalistischen Erklärungsversuches für ein eigentlich unbedeutendes Phänomen zurückgestellt wird –, sollte dem jungen Mann, der über sein Leid ja gerade nicht reden will, eigentlich entgegenkommen – und wer weiß, vielleicht hätte er, wenn er nicht etwas anderes im Sinn gehabt hätte, sich auf eine entsprechende Fachsimpelei als eine Art kollektiver Verdrängung ja eingelassen.

Entscheidend für eine Bewertung des kommunikativen Verhaltens des jungen Mannes ist ferner der zeitliche Abstand zur Katastrophe. Handelt es sich um die erste Mitteilung, die er von seinem Fund macht? Oder gehört es mittlerweile zu seiner Gewohnheit, Fremde anzusprechen und auf seine Uhr hinzuweisen? Mit ein paar Retuschen in der Kurzgeschichte könnte dieser letzte Fall als eindeutig zutreffendes Szenario etabliert werden: Dann hätte man es mit einem halb-verrückten Außenseiter zu tun, das heißt mit jemandem, dessen Sozialverhalten durch den Verlust von »allem« und den langfristigen Folgen dieser Katastrophe bereits verändert, um nicht zu sagen: geschädigt wurde. Tatsächlich scheint aber mehr für den ersten Fall zu sprechen. »Ja, ich habe sie noch gefunden« (201), sagt der junge Mann, so, als ob er das Ergebnis einer gerade beendeten Suche verkündet. Und wenn er die Zahlen mit dem Finger abtupft, könnte dies zur Beseitigung des Staubes geschehen, mit dem die Uhr nach dem Hauseinsturz gewiss bedeckt gewesen war – wenn er mit dem Finger einen Kreis »auf dem Rand der Telleruhr entlang« macht (Ist das nicht falsch formuliert? Entweder: auf dem Rand der Telleruhr; oder: entlang des Randes der Telleruhr?), dann wird sich dieser Kreis wohl in der entsprechenden Staubdecke abzeichnen.

Die Uhr selbst ist als gewöhnliche, billige Küchenuhr charakterisiert. Es gibt keine Abbildungen darauf oder sonst einen Schmuck. Der Vergleich mit dem Teller vermittelt einen Eindruck von ihrer Größe. Die Farbkombination – weiß und blau – muss weiter keine symbolische Bedeutung haben: Es ist ein kalter Farbklang, wie er allenfalls zu der gefliesten, kalten, nächtlichen Küche passt. Tatsächlich muss die Uhr als Zeichenträger, wenn sie als solcher funktionieren soll, bis zu einem gewissen Grad eigenschaftslos sein, sonst überdeckten ihre Eigenschaften (sagen wir: roter Grund und orangene Farben; oder: eine darauf gemalte Alpenhütte) das Zeichen. Die liebevolle Handhabung des jungen Mannes hat ihren Grund nicht in dem Materialwert der Uhr oder ihrer konkreten Beschaffenheit, sondern allein in dem, was sie in seinen Augen repräsentiert und als Relikt des zerstörten Elternhauses, als Reliquie gleichsam, bezeugt.

Auch dass sie kaputt ist, stehengeblieben, ist für ihre Funktion als Zeichenträger notwendig. Dennoch gibt es einen Bedeutungsüberschuss, wenn der junge Mann sagt, »[i]nnerlich« (201) sei sie kaputt, das stehe fest, aber sie sehe noch aus wie immer. Mit dem Adverb, das gewöhnlich nicht für Gegenstände benutzt wird, geht eine leichte Anthropomorphisierung (Vermenschlichung) der Uhr einher. Der Gegensatz zwischen innerer Zerstörung und äußerer Unversehrtheit erinnert an die Beschreibung des jungen Mannes aus dem ersten Absatz, den Gegensatz von altem Gesicht und jugendlichem Gang – jedoch, wie bereits erläutert, ist die Analogie eine sehr schiefe Analogie. Die innerliche Kaputtheit des jungen Mannes – wenn man davon sprechen will – bleibt gerade nicht verborgen, sondern sie zeigt sich sehr deutlich auf seinem Gesicht. Dies steht im Gegensatz zu einem anderen Merkmal seiner Erscheinung – seinem Gang –, aber dieser Gegensatz liegt nicht auf der Achse verborgen/offenbar, Sein/Schein, wie bei der Uhr.

Veröffentlicht am 7. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 7. September 2023.