Eine Küchenuhr wird in Wolfgang Borcherts gleichnamiger Kurzgeschichte zum Symbol für ein verlorenes Paradies: Ein junger Mann freut sich, dass er die schlichte Küchenuhr der Familie aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs bergen konnte. Äußerlich ist sie intakt, ihr Inneres jedoch ist defekt. Dennoch weckt sie bei dem Protagonisten Erinnerungen an Wärme und Geborgenheit. Als er versucht, seine Geschichte mit anderen zu teilen, stößt er zunächst auf Gleichgültigkeit.
Die Kurzgeschichte »Die Küchenuhr« erschien erstmals am 27. August 1947 in der »Hamburger Allgemeinen Zeitung«. Schauplatz der Handlung ist ein nicht näher bezeichneter Ort im Nachkriegsdeutschland.
Die Kurzgeschichte lässt sich in drei Teile gliedern:
- Gegenwart: Der junge Mann setzt sich zu Fremden auf eine Bank und zeigt seine Uhr.
- Rückblick: Der Mann erinnert sich an sein regelmäßiges Heimkommen in der Nacht, an die Mutter und seine geringe Wertschätzung ihrer Fürsorge.
- Gegenwart: Der junge Mann spricht vom verlorenen »Paradies« und löst damit eine Reaktion unter den zuvor teilnahmslosen Fremden aus.
Ein etwa zwanzigjähriger Mann setzt sich zu fremden Leuten auf eine Bank. Er zeigt ihnen eine Küchenuhr und sagt, die Uhr an sich sei nicht wertvoll. Er habe sie jedoch in seinem kriegszerstörten Elternhaus gefunden. Die Uhr ist äußerlich heil, geht aber nicht mehr. Die Zeiger sind auf halb drei stehen geblieben, was den jungen Mann sehr freut.
Ein Mann aus der Runde vermutet, dass der Druck einer Bombe den Stillstand der Uhr verursacht habe. Einen solchen Zufall wehrt der junge Mann entschieden ab. Die Uhrzeit hat für ihn eine andere Bedeutung. Da die Anwesenden sich abwenden, spricht der junge Mann zu der Uhr:
Halb drei in der Nacht sei genau die Uhrzeit, zu der er früher immer nach Hause gekommen sei. Er erinnert sich, dass seine Mutter dann für ihn aus dem Bett aufgestanden sei. Nacht für Nacht habe sie ihn liebevoll umsorgt. Er habe das damals als selbstverständlich angesehen. Heute wisse er, dass es das »Paradies« gewesen sei.
Die Küchenuhr ist auf halb drei stehengeblieben. Ebenfalls um halb drei in der Nacht wacht die Frau in Borcherts Kurzgeschichte »Das Brot« durch fremde Geräusche auf. Ihr Mann isst heimlich in der Küche eine Scheibe des streng rationierten Brots. Mitunter wird behauptet, halb drei sei die schwärzeste Stunde der Nacht. Wissenschaftlich ist dies nicht haltbar. Im übertragenen Sinne kann man es jedoch gelten lassen. Wenn man zum Beispiel gegen halb elf zu Bett geht und – nach acht Stunden Schlaf – um halb sieben aufsteht, so markiert halb drei genau die Mitte der Nacht, also einen Tiefpunkt der Dunkelheit (zugleich aber auch einen Wendepunkt hin zum Tag).
Verlegen sucht der junge Mann die Blicke der anderen Leute. Niemand sieht ihn an. Eine Frau fragt ihn nach seiner Familie. Er gesteht, dass er seine Eltern und allen Besitz verloren habe – außer der Uhr. Der Mann neben ihm auf der Bank sieht auf seine Schuhe und denkt unentwegt an das Wort »Paradies«.
»Die Küchenuhr« zählt zur sogenannten Trümmerliteratur. Durch die schnörkellose Sprache und die zahlreichen Wiederholungen (»übrig geblieben«, »halb drei« oder »Paradies«) wird der kurze Text sehr eindringlich. Das schweigende Nebeneinandersitzen auf der Bank und die Teilnahmslosigkeit gegenüber dem jungen Mann wirken erschütternd. Wolfgang Borchert macht deutlich, dass der Zustand der Küchenuhr – äußerlich intakt und innerlich zerstört – sich auch auf Menschen übertragen lässt, die der Krieg vermeintlich verschont hat.