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Geschichten aus dem Wiener Wald

Historischer Hintergrund und Epoche

Das Drama ist in Wien gegen Ende der 1920er-Jahre angesiedelt. Diese Zeit war geprägt von großen gesellschaftlichen Umbrüchen, hervorgerufen durch die Weltwirtschaftskrise. Ausgelöst durch den Crash der New Yorker Börse im Oktober 1929, war sie die schlimmste Wirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts. Ihre Folgen waren in Europa ebenso dramatisch wie in den USA selbst. 

Bankenkrisen und Massenarbeitslosigkeit brachten viele Menschen in Not. Betroffen war vor allem die Arbeiterklasse. Aber auch Mittelschicht und Kleinbürgertum spürten die Auswirkungen der Krise, denn durch die schwindende Kaufkraft befand sich der Handel im Niedergang. Dies wird im Drama am Ladengeschäft des Zauberkönigs illustriert, der von diesem Verhängnis unmittelbar betroffen ist (Bäuerle 129). 

Mit der Weltwirtschaftskrise gingen politische Veränderungen einher, die nur wenige Jahre später in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs führen sollten. In Deutschland erhielt die rechtsradikale Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) starken Zulauf. Auch in Österreich wendeten sich immer größere Teile der Bevölkerung von einer demokratischen Haltung ab und öffneten sich rechtsradikaler Propaganda. Das Kleinbürgertum, das Horváth beschreibt, reagiert auf die wirtschaftliche Verunsicherung und die Angst vor der Zukunft mit Rassismus und Antisemitismus. 

Gleichzeitig tun seine Vertreter alles, um sich ihrer Gruppenzugehörigkeit zu versichern. Dazu gehört die Einhaltung bestimmter sozialer Regeln und Rituale. Manfred Eisenbeis erläutert, wie Horváth die »Orientierungskrise des Mittelstandes […] darin begründet [sieht], dass viele ihren wirtschaftlich gesicherten sozialen Status beibehalten wollten und sich bemühten, ihre soziale Degradierung ideologisch zu kompensieren. Horváth zeigt das paradoxe Verhalten dieser sozialen Gruppe auf, die gebildet sein möchte und sich an die Werte des Bürgertums klammert, aber keinen Zugang zu echter Bildung hat.« (Manfred Eisenbeis, Lektüreschlüssel. Ödön von Horvath. Geschichten aus dem Wiener Wald, zitiert nach Bäuerle).

Die Kleinbürger – Handwerker, Handelsvertreter und Ladenbesitzer – halten an einem süßlich-sentimental verklärten Bild ihrer Heimatstadt Wien fest, das längst nicht mehr der sozialen Realität der Großstadt entspricht und so vielleicht auch nie wirklich existiert hat. Diese Verklärung findet ihren Ausdruck in den musikalischen Bezügen und Anspielungen, die sich als roter Faden durch das Drama ziehen. Hinter den sentimentalen Wienerliedern, die beim Heurigen gesungen werden, lauern Doppelmoral und menschliche Abgründe.

Veröffentlicht am 27. März 2023. Zuletzt aktualisiert am 27. März 2023.