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Geschichten aus dem Wiener Wald

Interpretation

Das Walzermotiv

Der Titel des Stücks zitiert den Walzer op. 325 »Geschichten aus dem Wienerwald« von Johann Strauß (Sohn). Das im Verlauf des Stückes immer wieder aufgegriffene Walzermotiv spiegelt mit der Struktur des Walzers die Komposition des Dramas: Introduktion (Einführung), Thema und die sogenannte »Coda«, die die vorangegangenen Themen wieder aufnimmt. So entsteht die typische Rondo-Form des Walzers: Am Ende kehrt die Komposition wieder an ihren Anfang zurück (vgl. Reitzammer, Abschnitt 3.3.). Dieser Aufbau ist ein Gegenmodell zur pyramidalen Struktur des klassischen Dramas nach Aristoteles mit fünf Akten, die sich aus Exposition, aufsteigender Handlung, Peripetie, absteigender Handlung und retardierendem Moment sowie Katastrophe zusammensetzen.

Im Kontext des Dramas bedeutet diese Rondo-Form jedoch keineswegs Harmonie und Ausgewogenheit, sondern ist eher als ›Teufelskreis‹ zu beschreiben. Die Rückkehr Mariannes zu ihrer Ausgangssituation, nämlich der bevorstehenden Ehe mit Oskar, zeigt die Ausweglosigkeit ihrer Lage. Sie kann dem vorbestimmten Schicksal einer Frau aus kleinbürgerlichen Verhältnissen nicht entrinnen. Das kündigt bereits der fürchterliche Satz Oskars im ersten Teil an, seine Drohung: »[…] ich werde dich auch noch weiter lieben, du entgehst mir nicht« (S. 40, 18f.).

Mariannes Wunsch nach Emanzipation

Mariannes gesellschaftliche Stellung als Tochter eines verwitweten Ladenbesitzers bestimmt ihre Zukunftsperspektive. In Szene I,3 erzählt sie Alfred: »Ich wollte mal rhythmische Gymnastik studieren, und dann hab ich von einem eigenen Institut geträumt, aber meine Verwandtschaft hat keinen Sinn für sowas. Papa sagt immer, die finanzielle Unabhängigkeit der Frau vom Mann ist der letzte Schritt zum Bolschewismus« (S. 26, 7–9, vgl. Zitat Nr. 2).

Die 1920er-Jahre markieren den Beginn eines neuen weiblichen Selbstverständnisses, zu dem auch sportliche Aktivitäten wie rhythmische Gymnastik und Ausdruckstanz gehören. So ist Mariannes Sehnsucht nach beruflicher Unabhängigkeit gleich im doppelten Sinne emanzipatorisch. Doch ihr Wunsch nach einer Ausbildung wird unterdrückt: Ihr Vater braucht sie als billige Ladenhilfe. Ihre finanzielle Versorgung in der Zukunft soll die Heirat mit dem Metzger Oskar sichern.

»Ein Fräulein wird geschlachtet«

Marianne ist neben der kleinen Ida die einzige unschuldige Person im Stück. Im Unterschied zu den anderen Figuren, die allesamt statische Charaktere sind, ist sie auch die einzige Person, die eine Entwicklung durchmacht. Doch das bewahrt sie nicht vor ihrem brutalen Schicksal – im Gegenteil: Ihre anfängliche Naivität macht sie ebenso wie ihr späterer Pragmatismus, der auf der Liebe zu ihrem Kind gründet, besonders geeignet zum Schlachtopfer ihres kleinbürgerlichen Umfeldes. 

Die häufig auftauchenden Motive des Messers und der Blutwurst sowie die Gespräche über das Schlachten und Saustechen erscheinen als Allegorie auf Mariannes Bestimmung. Herbert Gamper stellt im Programmheft zu einer Aufführung des Württembergischen Staatstheaters Stuttgart fest, dass ihre Geschichte auch unter dem Titel »Ein Fräulein wird geschlachtet« stehen könne. Im Verlauf des Stückes erscheint sie als eine Art Opferlamm, das von der eigenen Familie bereitwillig auf dem Altar der kleinbürgerlichen Doppelmoral hingerichtet wird – ein vollkommen sinnloses Opfer.

Veröffentlicht am 27. März 2023. Zuletzt aktualisiert am 27. März 2023.