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Geschichten aus dem Wiener Wald

3. Teil, Szene I–II

Zusammenfassung

I – Beim Heurigen

Eine Gruppe feiert in einem Lokal, darunter Valerie, der Zauberkönig, Erich und ein nach Amerika ausgewanderter Wiener, genannt »der Mister«. In angetrunkener Stimmung werden gierig Würste verschlungen, Wienerlieder gesungen und Schlüpfrigkeiten ausgetauscht.

Der Rittmeister spricht mit Valerie bedauernd über das Verhalten des Zauberkönigs: Dieser verweigere noch immer jeden Kontakt zu seiner Tochter.

Man wechselt das Lokal und geht ins »Maxim«. Hier wird eine Bühnenshow mit Tänzerinnen gezeigt. In sogenannten »Lebendigen Aktplastiken« präsentieren nackte Frauen verschiedene Szenen. Zuerst erscheint eine Gruppe, die Donaunixen darstellen soll, danach treten Frauen auf die Bühne, die das Thema »Zeppelin« mit einem Propeller, einem Globus und einem Miniaturzeppelin illustrieren.

Das dritte Bild schließlich stellt das Gemälde »Die Jagd nach dem Glück« von Rudolf Friedrich August Henneberg dar. In der allegorischen Darstellung wird Fortuna als Trugbild durch eine nackte Frau repräsentiert – auf der Bühne des »Maxim« ist es Marianne. Als Marianne nackt auf der Bühne erscheint, kommt es zu Tumulten im Publikum. Die Vorstellung wird abgebrochen und die Gäste verlassen das »Maxim«.

Zurück bleiben der Zauberkönig und seine Tochter, die ihren Vater verzweifelt um Hilfe bittet. Er weist sie mit eisiger Kälte ab. Sie erfährt, dass er bereits von ihrem Kind weiß. Als sie ihm sagt, dass sie ihrem Sohn nach ihm den Namen Leopold gegeben hat, reagiert er hart und ungerecht. Marianne will ihm ihre verzweifelte Lage und die Gründe für ihre Arbeit im Nachtklub erklären. Doch ihr Vater bemüht sich nicht, sie zu verstehen, sondern wirft lediglich mit strafenden Worten und moralisierenden Phrasen um sich. Dann geht er fort und lässt sie allein.

Der Mister taucht auf und bietet Marianne Geld für sexuelle Dienste an. Seine Wünsche äußert er nicht explizit, sondern nur in Andeutungen, indem er ihr seine Brieftasche zeigt und sagt, das Geld darin wolle verdient sein. Als Marianne das Geld ablehnt und sagt, er habe sich in ihr geirrt, beschuldigt er sie, seine Brieftasche gestohlen zu haben. Er ruft die Polizei.

II – Draußen in der Wachau

Alfred sitzt mit seiner Großmutter im Garten. Neben ihnen steht der Kinderwagen mit dem Säugling. Die Großmutter beschimpft ihren Enkel, weil er ihr Geld beim Trabrennen verspielt hat. Außerdem spricht sie schlecht über Marianne, die inzwischen in Untersuchungshaft sitzt. Alfred hat einen Anflug von Reue gegenüber Marianne und versucht, sie zu verteidigen.

Als er wieder gegangen ist, tritt die Mutter aus dem Haus. Sie spricht mit der Großmutter besorgt über das kränkelnde Kind. Die Großmutter zeigt keinerlei Sorge oder Mitgefühl. Schließlich wird sie von der Mutter direkt darauf angesprochen, dass sie den Säugling bewusst kalter Zugluft aussetzen würde. Die Großmutter leugnet es.

Analyse

Die Szene »Beim Heurigen« fährt alle Klischees auf, die zum Teil bis heute das Bild von Wien und seiner Unterhaltungskultur prägen. Annette Kappeler erläutert die Funktion der Musik in ihrem Aufsatz »Akustische Widerhaken. Musik in Ödön von Horváths Theaterstücken« (in: Streitler-Kastberger, 81–89). Sie zeigt, dass die im Drama zitierten Stücke einem bürgerlichen Kanon entstammen, der den Protagonisten vertraut ist und von ihnen in verschiedenen Situationen zitiert wird.

Die erste Szene des dritten Teils beginnt mit dem Lied »Da draußen in der Wachau« und stellt damit sofort wieder eine Verbindung zu jenen Szenen her, die mit dieser Ortsangabe überschrieben sind; eine der vielen Kreisbewegungen des Stücks. Weitere Wienerlieder, die in dieser Szene zitiert werden, sind u. a. »Da fahrn ma heut nach Nussdorf naus« (S. 68, 22–27), »Mei Muatterl war a Weanerin« (S. 73, 59), »Wien, Wien, nur du allein« (S. 73, 11–14), »Mir ist mei Alte gstorbn« (S. 73, 33–S. 74, 4) und »Vindobona, du herrliche Stadt« (S. 74, 31–S. 75, 2).

Kappeler zeigt, wie die musikalischen Zitate neu zusammengesetzt werden und mit Text- und gestischen Elementen kontrastieren, sodass ihre Sänger entlarvt werden. Die Zuschauer geraten dabei ebenfalls in die Gefahr des »unbedachten Mitschunkeln[s]«, denn die Musikstücke »faszinieren […] und vernebeln das Bewusstsein von Figuren und Publikum« (Kappeler in: Streitler-Kastberger 88). Raffinierter als beim Brechtschen Verfremdungseffekt wird hier die Illusion beim Zuschauer nicht durch einen auffallenden Bruch im Ablauf des Geschehens oder im Bühnenbild zerstört, sondern allein durch sein eigenes Erkennen der Diskrepanz zwischen den Inhalten der Musik und dem Verhalten der Figuren. So mag das Publikum manchmal über sich selbst erschrecken, wenn es zum Mitschunkeln oder Mitsummen geneigt ist.

Im »Maxim« kommt es zu der dramatischen Situation, in der Mariannes Vater und ihre früheren Nachbarn sie auf der Bühne erkennen und daraufhin einen Tumult auslösen. Der Zauberkönig zeigt dabei erneut seine zwei Gesichter. Noch kurz zuvor hatte er im Heurigenlokal einem vorbeigehenden Mädchen an die Brüste gefasst, mit Valerie schlüpfrige Bemerkungen über Erich gemacht und zu Beginn der Show im »Maxim« gesagt: »Nackete Weiber, sehr richtig!« (S. 78, 15).

Eine erotische Bühnenshow zu genießen und doch nicht zu wollen, dass die eigene Tochter darin auftritt: Dieses Verhalten als bösartige Doppelmoral zu geißeln, wäre wohl selbst recht moralinsauer. Der Zauberkönig belässt es jedoch nicht dabei. Er stellt sich selbst im anschließenden Gespräch mit Marianne als hoch moralischen Menschen dar. Seine vermeintliche Sittenstrenge stellt er dabei deutlich über die Vaterliebe, die er offenbar auch gar nicht empfindet. Er spricht sogar über seinen Enkel nur mit Kälte, nennt ihn »Schand« (S. 82, 3) und »Brut« (S. 83, 13) und lässt Marianne in ihrer verzweifelten Lage allein zurück.

Diese Heuchelei zeigt auch der Mister, der Marianne einer kriminellen Handlung beschuldigt, die sie nicht begangen hat. Derselbe Mann, der sich vorher in geselliger Runde noch leutselig und humorvoll gezeigt hat, wird schlagartig zum Täter, als Marianne sich nicht prostituieren will.

Die zweite Szene des dritten Teils führt wieder in die Wachau zu Alfreds Mutter und Großmutter. Hier erweist sich die Großmutter als Geistesverwandte des Zauberkönigs, indem sie sich selbst als rigorose Sittenwächterin stilisiert. In Wahrheit steckt sie voller Bosheit und schreckt nicht einmal davor zurück, die Unterkühlung des Säuglings zu provozieren.

Veröffentlicht am 27. März 2023. Zuletzt aktualisiert am 27. März 2023.