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Geschichten aus dem Wiener Wald

Prüfungsfragen

  • Erläutern Sie den Gattungsbegriff »Volksstück« und seinen Bezug zu den »Geschichten aus dem Wiener Wald«.

    Horváth wies seinem Drama selbst den Gattungsbegriff »Volksstück« zu. Damit knüpfte er an seine schon seit seinem ersten erfolgreichen Stück »Die Bergbahn« (1926) bestehenden Bemühungen an, diese Gattung zu erneuern. Obwohl das traditionelle Wiener Volksstück grundsätzlich schon vorher die Möglichkeit gehabt hätte, gesellschaftskritisch zu agieren, verfestigte es stattdessen Klischees, an denen das Kleinbürgertum festhielt. Horváth erkannte dies und wagte mit seinen eigenen Volksstücken eine radikale Veränderung ihrer Ausrichtung. Er stellte Figuren aus dem Kleinbürgertum in den Mittelpunkt und zeigte ihre Bedrängnisse als Folge gesellschaftlicher Fehlentwicklungen. Die im Volksstück bisher zur Unterhaltung eingesetzte Musik verwendete er nun zur Irritation (Feuchert 117); anstelle des traditionellen, oft sentimentalen Happy Ends endet das Volksstück bei ihm mit einer Katastrophe.

  • Nennen Sie (Liebes-)Paare, die im Drama vorkommen, und beschreiben Sie ihre jeweiligen Beziehungskonzepte.

    Oskar und Marianne sind zu Beginn des Stückes aufgrund gesellschaftlicher Konventionen ein Paar. Mariannes Vater fördert ihre Verlobung aus Eigeninteresse; Oskar behauptet, Marianne zu lieben, will sie aber lediglich besitzen, während Marianne von ihm abgestoßen ist und unter der Verbindung leidet. Als sie mit Alfred zusammenkommt, glaubt sie an die ›große Liebe‹. Auf ihrer Seite besteht naive Aufrichtigkeit, während Alfred ausschließlich körperlich von Marianne angezogen wird. Als diese Anziehung schwindet, lässt er sie fallen; eine emotionale Verbindung fühlt er nicht. Zuvor war er mit Valerie liiert, eine Beziehung, in der sich sexuelle und wirtschaftliche Interessen verbunden haben.

    Alfreds Partnerschaftskonzept beruht auf Berechnung, Oskars auf Konvention. Der Zauberkönig wiederum folgt kleinbürgerlicher Doppelmoral, wenn er auf der Verlobungsfeier von Marianne und Oskar in rührseliger Verklärung über seine verstorbene Frau als seiner »unvergesslichen Gemahlin, der Mariann ihrer lieben Mutterl selig« spricht und sich auf derselben Veranstaltung auf ordinäre Art Valerie nähert. So erweisen sich alle im Drama dargestellten Paarbeziehungen als unehrlich, berechnend oder auf bloßer Konvention beruhend. Marianne ist die einzige Figur, die zu aufrichtiger Liebe fähig ist.

  • Warum legte Horváth Wert darauf, dass die Schauspieler nicht realistisch oder naturalistisch agieren sollten?

    Bei einer naturalistischen Darstellung seiner Figuren sah Horváth die Gefahr, dass die Ironie der Dialoge nicht zum Ausdruck kommen könnte. Stellt man Personen wie Havlitschek oder die Großmutter sehr realitätsnah dar, lässt man sie also z. B. Dialekt sprechen, erscheint das Drama als Volksstück im hergebrachten Sinne, nicht als Parodie und Neugestaltung des Genres. Für Horváth war es daher wichtig, dass die Schauspieler äußerst manieriert spielen. So entsteht durch den Kontrast zwischen ihren Bemühungen, elegant und gebildet zu wirken, und ihrem tatsächlichen Leben und Verhalten eine traurige Komik, die nichts mit den handfesten ›Schenkelklopfern‹ des ursprünglichen Volksstücks gemeinsam hat.

  • Wie wird das Kleinbürgertum in Horváths Drama dargestellt? Nennen Sie charakteristische Wesenszüge und Verhaltensweisen.

    Die Angehörigen des Kleinbürgertums werden mit Ausnahme von Marianne als versteckt oder offen bösartig dargestellt. Dabei geben sie zugleich vor, hohe moralische Ansprüche an sich und andere zu stellen. Das drastischste Beispiel dafür ist Alfreds bigotte Großmutter, die Marianne wegen ihres unehelichen Kindes »schlamperte Weibsperson« (S. 58, 4) nennt und auf sie herabblickt, selbst aber nicht einmal vor Mord zurückschreckt. Zu den charakteristischen Wesenszügen der Kleinbürger gehören Doppelmoral und emotionale Kälte, die z. B. der Zauberkönig zeigt, indem er seine Tochter verstößt, nachdem sie die von ihm arrangierte Verlobung gelöst hat.

    Bezeichnend für die dargestellten Figuren ist auch ihr Festhalten an kirchlichen und familiären Traditionen. Der Besuch einer Totenmesse gehört dazu ebenso wie die Verlobungsfeier im großen Familienkreis. Bei solchen Gelegenheiten zeigt man durch floskelhaftes Sprechen und konventionelles Verhalten seine Gruppenzugehörigkeit, an der man unbedingt festhalten will, selbst wenn man sich für die anderen Angehörigen dieser Gruppe gar nicht interessiert oder sogar mit ihnen verfeindet ist.

  • Warum scheitern fast alle Kommunikationsversuche der Figuren im Stück? Beschreiben Sie ihr Gesprächsverhalten.

    Weil fast alle Figuren versuchen, etwas Bestimmtes darzustellen und einem erwarteten Rollenbild zu entsprechen, spricht keiner von ihnen mit authentischer Stimme. Sie möchten dem Bildungsbürgertum angehören, obwohl sie Angehörige des Kleinbürgertums und als solche im sozialen und wirtschaftlichen Abstieg begriffen sind (vgl. Prüfungsaufgabe 4). Darum sprechen sie Hochdeutsch anstelle des ihnen vertrauten Dialekts, bedienen sich im Umgang miteinander vorgefertigter Floskeln wie »Küss die Hand!« und binden Literaturzitate in ihre Unterhaltung ein, deren ursprüngliche Herkunft sie nur selten kennen. Da kein menschliches Interesse am jeweiligen Gegenüber besteht, sind auch ehrlicher Austausch und Verständigung nicht möglich. Authentizität blitzt bezeichnenderweise nur dort auf, wo die handelnden Personen einander beschimpfen.

  • Erläutern Sie zeithistorische Bezüge anhand der Figur des Rittmeisters.

    Der Rittmeister verkörpert als Offizier im Ruhestand die Werte der alten Donaumonarchie. Auch als Pensionär lässt er sich weiterhin nur mit »Herr Rittmeister« ansprechen; sein bürgerlicher Name wird an keiner Stelle genannt. In der K.u.K.-Monarchie waren Angehörige des Militärs und insbesondere Offiziere hoch angesehen. Das Kaiserreich endete 1918 mit dem Ende des Ersten Weltkrieges, doch viele Österreicher konnten den Übergang zu einer modernen Demokratie innerlich nicht nachvollziehen. Im Herzen blieben sie kaisertreu. Da die Kleinbürger, mit denen der Rittmeister Umgang hat, dem untergegangenen Kaiserreich hinterhertrauern, wird er von ihnen umschmeichelt.

  • Lässt sich das Aufbauschema des klassischen Dramas auf die »Geschichten aus dem Wiener Wald« übertragen?

    Als Ganzes folgt das Drama mit seinen zahlreichen gleichrangigen Nebenhandlungen und -figuren keinem klassischen pyramidalen Aufbau, sondern einer Zirkelbewegung. Dennoch wollen einige Interpreten das klassische Schema nachvollzogen sehen, indem sie sich ausschließlich auf die Handlung rund um Marianne fokussieren (Reitzammer, Abschnitt 3.3). Sowohl Einleitung als auch steigende Handlung (»erregendes Moment«) wären in dieser Sicht der Dinge in der zweiten Szene des ersten Teils untergebracht: nämlich die Erwähnung von Mariannes bevorstehender Verlobung sowie ihre erste verwirrende Begegnung mit Alfred. Den Höhepunkt, die Peripetie, bildete sodann die Auflösung der Verlobung mit Oskar in der vierten Szene des ersten Teils und die damit verbundene Abkehr des Zauberkönigs von seiner Tochter. Danach würde die absteigende Handlung folgen, in der Mariannes Probleme zunehmend schlimmer werden, bis zur Katastrophe in der letzten Szene, in der sie vom Tod ihres Kindes erfährt.

    Dass diese Deutung nur bedingt nachvollziehbar ist, zeigt allein schon die ungleichmäßige Verteilung dieser Abschnitte auf die drei Teile des Stückes. Sie hebt sich auffällig von der harmonischen Gliederung des klassischen Dramas und der exakten Zuweisung der Abschnitte zu jeweils einem seiner fünf Akte ab. Auch die Versöhnungsversuche des Zauberkönigs können kaum als echtes retardierendes Moment betrachtet werden, liegt ihnen doch kein wahres Bemühen um eine Lösung, sondern ein ausschließlich egoistisches Motiv zugrunde. So zeigt sich auch in dieser Deutung, dass Horváth die klassische Dramenpyramide letzten Endes negiert. Selbst dort, wo er ihr ansatzweise folgt, dekonstruiert er sie zugleich. Auf der Inhaltsebene wird damit demonstriert, dass die Ideale der Klassik unerreichbar, ihre Versprechen uneinlösbar sind.

  • Erklären Sie, wie Horváth mit dem literarischen Topos des Stadt-Land-Gegensatzes umgeht.

    Der Gegensatz zwischen dem Leben in einer Residenzstadt oder einer modernen Großstadt und dem zurückgezogenen Leben auf dem Land ist ein bekanntes literarisches Motiv und findet sich in der europäischen Geistesgeschichte spätestens seit dem 18. Jahrhundert. Dabei ist die Welt in der Nähe des Hofes oder im ›Großstadtdschungel‹ meist von konventionellen Zwängen, starren Hierarchien und Machtstrukturen sowie der Unmöglichkeit authentischer Kommunikation gekennzeichnet. Dem steht das Leben in der Natur als ideale, ja paradiesische Welt gegenüber, in der soziale Gemeinschaft geübt wird, Künstler sich in ihren Werken frei ausdrücken oder ungleiche Paare ihre Liebe leben dürfen. Bei Horváth ist dieser Kontrast rein äußerlich. Die Landschaft ist schön, im Hintergrund ertönt liebliche Musik – doch die Menschen verhalten sich ebenso bösartig, zwanghaft und manipulativ wie in der Stadt. Es gibt keine Gegenwelt, in die man entrinnen könnte; die Situation ist ausweglos, wie die Rondoform des Dramas auch auf formaler Ebene anzeigt.

  • Interpretieren Sie das dem Drama vorangestellte Motto: »Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit«.

    Dummheit als Ursache menschlicher Katastrophen ist das Hauptmotiv des Dramas. Fast alle Figuren sind dumm im Sinne mangelnder Bildung und fehlenden politischen Interesses. Dabei sind sie zugleich gewieft und ›bauernschlau‹, wenn es um finanzielle oder sexuelle Vorteile geht. Lediglich Marianne besitzt diese instinktive Schläue nicht. Sie wiederum ist dumm im Sinne von Naivität und zu großer Harmlosigkeit. Alle Figuren verbindet eine geistige Unfreiheit. Sie sind unfähig, die größeren Zusammenhänge zu erkennen, die ihre individuellen Lebenssituationen beeinflussen oder sogar bedingen. Der Literaturwissenschaftler Wilhelm Emrich ist der Auffassung, dass diese Dummheit eine »willentliche Ignoranz, bewusstes Ignorieren von Fakten« sei. Das Gefühl der Unendlichkeit liege in der »euphorischen Selbstbestätigung […] und ungetrübter Gewissheit, im Recht zu sein« (Wilhelm Emrich, Die Dummheit und das Gefühl der Unendlichkeit, zitiert nach Reitzammer).

  • Welche Rolle spielt die Musik in der ersten Szene der »Geschichten aus dem Wiener Wald«? Erläutern Sie Ihre Antwort anhand von Beispielen.

    »Da draußen in der Wachau« ist ein bekanntes Wienerlied des Komponisten Ernst Arnold aus dem Jahr 1921. Man kann davon ausgehen, dass es dem zeitgenössischen Publikum bekannt war. Außerdem beginnt die Szene mit der Regieanweisung: »In der Luft ist ein Klingen und Singen – als verklänge irgendwo immer wieder der Walzer ›Geschichten aus dem Wiener Wald‹ von Johann Strauß. Und in der Nähe fließt die schöne blaue Donau« (S. 7, 8–10). »An der schönen blauen Donau« ist ein weiterer Johann-Strauß-Walzer. Somit bilden gleich drei musikalische Anspielungen auf das Stereotyp der Musikstadt Wien bzw. der romantischen Wachau den Auftakt. Der daran anschließende Handlungsverlauf der Szene steht in krassem Kontrast zu dem idyllischen Bild, das mit den musikalischen Zitaten zunächst erzeugt wird.

Veröffentlicht am 27. März 2023. Zuletzt aktualisiert am 27. März 2023.