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Das Urteil

Historischer Hintergrund und Epoche

Die Einteilung der Literaturgeschichte in Epochen funktioniert nicht reibungslos. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, gibt es wohl keinen bedeutenden Text, der sich zu hundert Prozent einer einzelnen Epoche und dann auch nur dieser zuordnen lässt. So wäre ein Text, der zum Beispiel ausschließlich expressionistisch wäre, sicher interessant, um diese Epoche vorzustellen, die Frage ist allerdings, ob ein solcher Text weltweit eine solche Bedeutung hätte erlangen können, wie es für »Das Urteil« gilt.

 Geschrieben wurde »Das Urteil« in der Nacht vom 22. auf den 23. September 1912. Kafka lebte zu dieser Zeit bei seiner Familie im Zentrum der Stadt Prag, der Hauptstadt des Königreichs Böhmen in Österreich-Ungarn. Damit war Kafka Österreichischer Bürger. Auch wenn er im heutigen Tschechien als Sohn jüdischer Eltern aufwuchs, war seine Muttersprache weder Tschechisch noch Jiddisch. Tschechisch verstand er allerdings. Auch stammt sein Nachname aus dieser slawischen Sprache und bedeutet dort »Dohle«. Seine Muttersprache allerdings war Deutsch, wenngleich es sich um das besondere Deutsch Prager Färbung handelte. 

Kafkas Eltern waren in den 1870er Jahren nach Prag gekommen, zu dieser Zeit stand die Stadt gerade auf der Schwelle »ihrer Entwicklung zur modernen Metropole« (Haring, 2010: 1). Kafka sollte dem Kosmos dieser Stadt fast sein ganzes Leben über treu bleiben (vgl. ebd.). Erst kurz vor seinem Tod verlässt er die Stadt – und das Elternhaus. Kafka zieht nach Berlin, stirbt aber wenig später (ebd.: 24). Von Prag nach Berlin zu ziehen ist kein kleiner Schritt, beide Städte liegen in unterschiedlichen Ländern, haben unterschiedliche historische Voraussetzungen. 

Zwischen 1914 und 1918 befinden sich die Länder Europas im Ersten Weltkrieg. Der Krieg tobt zwar nicht in der unmittelbaren Nähe Prags, dennoch ist er bedrohlich. Kafka aber lässt sich nur wenig von ihm beeinflussen. Am 2. August heißt es im Tagebuch lakonisch:  »Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschule« (Kafka, 2002: 543). Während um ihn herum Verwandte eingezogen werden – »Es ist allgemeine Mobilmachung« (ebd.) – beginnt für Kafka sein privater »Kampf um die Selbsterhaltung« (ebd.).

Nach dem Krieg bricht die Monarchie in Österreich-Ungarn zusammen. Prag wird zur Hauptstadt des neuen Staates Tschechoslowakei, der bis zum Zusammenbruch des Warschauer Paktes ab Ende der 1980er Jahre Bestand haben wird. Kafka zollt dieser Entwicklung kein größeres Interesse. Er ist krank und führt zwischen 1918 und 1919 weder Tagebuch noch produziert er andere Texte (vgl. Haring, 2010: 21).

Als er nach Berlin zieht, drücken ihn finanzielle Sorgen, wobei das Berlin zu Beginn der 1920er mit hoher Inflation und Arbeitslosigkeit auch wirtschaftlich schlechte Grundbedingungen liefert (vgl. ebd.: 24). Und dennoch befindet sich Kafka entgegen dem Klischee stets im Austausch mit Kulturschaffenden. Sein wahrscheinlich bester Freund ist Max Brod, ein Schriftsteller, der zu Lebzeiten ziemlich erfolgreich war. Auch seine temporäre Lebenspartnerin Milena Jesenská ist als Journalistin keine Unbekannte. Franz Werfel ist ein guter Bekannter, ebenso kennt er Albert Ehrenstein und Alfred Kubin. Kafka nimmt Teil an der Welt um ihn herum und ist durchaus ein kompetenter Interpret seiner Epoche, wenngleich er äußerlich eher im kleinen Kreis unterwegs ist.

Veröffentlicht am 13. Mai 2024. Zuletzt aktualisiert am 13. Mai 2024.