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Das Urteil

Interpretationsansätze

Der Literaturwissenschaftler Rolf Selbmann schreibt über Kafkas Werk: »Immer zeigen die Erzählungen Stellen auf, die sich der Deutung widersetzen, entblößen eine Verrätselungsstruktur oder lassen den Interpreten, nachdem sie die Aufforderung zum Entschlüsseln ausgestreut haben, sich bei seiner Sinnsuche verlaufen« (Selbmann, 2002: 41). Es kann verschiedene Lesarten der Geschichte geben. 

Der Freund schafft es nicht, erwachsen zu werden. Er bleibt unverlobt und geschäftlich von Misserfolgen geprägt. Sein »seit den Kinderjahren« (43) bekanntes Gesicht wird nur andeutungsweise von einem Männlichkeit suggerieren wollenden, dennoch fremden, unpassenden (vgl. ebd.) Vollbart verdeckt. Doch auch Georg schafft es trotz aller Äußerlichkeiten nicht, sich von seinem Vater zu emanzipieren. Dieser bleibt »ein Riese« (50), er bleibt mächtig und lässt sich nicht »zudecken« (56). In diesem Sinne könnte »Das Urteil« als eine gescheiterte Coming-of-age-Geschichte verstanden werden. 

Eine andere Möglichkeit jedoch bestünde darin, »Das Urteil« aus der Perspektive der Gender-Studies dahingehend zu befragen, was eigentlich das zum Ausdruck gebrachte Männlichkeitsbild auszeichnet. Dies unternimmt etwa Christine Kanz. Sie schreibt: »Gleich zu Beginn wird die Maskulinität Georgs betont, wenn in einem Satz sein Nachname Bendemann mit seiner Berufsbezeichnung ›Kaufmann‹ verknüpft wird« (Kanz, 2002: 160). Auf der anderen Seite jedoch scheine Georg Bendemann »mit Zügen der Neurasthenie ausgestattet zu sein – dem männlichen Pendant der zeittypischen Frauenkrankheit Hysterie, das mit Judentum oder Homosexualität bzw. Judentum und Homosexualität assoziiert wurde« (ebd.).

Vor diesem Hintergrund würde auch Friedas: »Wenn du solche Freunde hast, Georg, hättest du dich überhaupt nicht verloben sollen« (48), einen anderen Klang bekommen. Der Satz könnte als Kritik an einer womöglich unterdrückten Bisexualität Georgs verstanden werden – Bisexuell, da er von Frieda allem Anschein nach erotisch angezogen wird (vgl. ebd.). Doch unabhängig davon ist Georg in vielen Situationen nicht sonderlich viril – dem Vater gegenüber ist er eher infantil. So verteidigt er Frieda auch nicht gegenüber den vulgären Ausfälligkeiten des Vaters. Vielleicht, weil er sie unbewusst teilt? 

Gleichzeitig scheint Georg körperlich von einer gewissen Athletik zu sein, andernfalls könnte er sich kaum in der Art und Weise eines Turners über das Geländer schwingen (vgl. Kanz, 2002: 163). An dieser Szene fällt noch etwas anderes auf: »Nach Michail Bachtin und nach Roland Barthes ist in einem literarischen Text derjenige ein Held, der das letzte Wort hat« (ebd.: 165). Und Georg hat das letzte Wort und kann sogar, so Kanz weiter, aus der Sicht Kafkas gerade noch als Held gelten: »Auch wenn man Georg insgesamt kaum zum Helden küren mag, so ist doch nicht zu übersehen, dass Kafka mit der Figur des Selbstmord begehenden oder […] seine Hinrichtung vollziehenden Sohns zumindest mit Versatzstücken des Heldenmythos spielt« (ebd.: 165 f.). Sein Tod oszilliert »zwischen Erbärmlichkeit und Heroismus« (ebd.: 166). So gesehen ist Georg einerseits das Paradebeispiel eines Mannes, andererseits das Zerrbild eines solchen. Das macht ihn durchaus zu einer modernen Figur.

Religiöse Deutungen kamen vor allem in der früheren Rezeption auf. Zu allen Zeiten aber gab es Versuche, »Das Urteil« psychologisch – und das heißt vor allem: psychoanalytisch – zu deuten. Auch wenn Kafka selbst schreibt, er könne keinen »geraden, zusammenhängenden, verfolgbaren Sinn« (Kafka, 2015: 416) in »Das Urteil« erkennen, die Psychoanalyse kann es. Auch, weil Kafka im Anschluss an die Niederschrift von »Das Urteil« in sein Tagebuch schrieb: Er hätte »Gedanken an Freud« gehabt (Kafka, 2002, 461).

So problematisch psychoanalytische Interpretationen auch sind, gewinnbringende Einsichten können sie dennoch liefern. Thomas Anz etwa schlägt probeweise die Deutung vor, Mutter und Frieda als zwei Seiten derselben Person zu deuten. »Durch Kontraste sind sie miteinander assoziiert: In der Perspektive des Vaters ist die eine Heilige, die andere Hure« (Anz, 2002: 133). 

So wäre die ödipale Triade komplett. Denn: »was ist an der Verlobung des Sohns so überaus heikel, dass es ihm derart schwer fällt, sie dem Freund mitzuteilen? Warum sieht sich der Sohn genötigt, dem Vater mitzuteilen, dass er dem Freund die Verlobung angezeigt habe? Warum reagiert der Vater so widersprüchlich und ausweichend, bis er ganz eindeutig seine Wut auf die Beziehung seines Sohnes zu der Verlobten artikuliert?«. Aber vor allem: »Wieso übernimmt der Sohn das Urteil und tötet sich selbst?« (ebd.: 134) 

Das alles ließe sich psychoanalytisch erklären. Die ödipale Situation besteht in dieser Lesart darin, dass das Begehren des Kindes sich auf die Mutter richtet, was den Widerstand des Vaters provoziert. Weil der Vater die Autoritätsfigur schlechthin sei, »implantiert [seine Autorität] in das Kind ein Schuldbewusstsein, dem das Begehren als teuflische Tat erscheint, für die es die Strafe des Todes verdient« (ebd.). Vor diesem Hintergrund erscheint der Satz des Vaters »Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch« (60) als Schilderung Georgs vor und während des ödipalen Konflikts. 

Doch dabei macht weder die Psychoanalyse noch Anz halt. Die These aus den Gender-Studies, die eine vermeintliche Homosexualität Georgs suggerierte, gewinnt in der Psychoanalyse einen ödipalen Hintergrund: »In psychoanalytischer Perspektive ist die Liebe zwischen Eltern und Kindern nur scheinbar frei von libidinösen Impulsen; die zwischen Vater und Sohn enthält homoerotische Komponenten« (ebd.: 136). Mit diesem Wissen im Hintergrund gewinnt auch der merkwürdige folgende Satz des Vaters an homoerotischer Drastik: »Wie du jetzt geglaubt hast, du hättest ihn [den Vater] untergekriegt, so untergekriegt, daß du dich mit deinem Hintern auf ihn setzen kannst und er rührt sich nicht« (56).

Veröffentlicht am 13. Mai 2024. Zuletzt aktualisiert am 13. Mai 2024.