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Kleider machen Leute

Aufbau des Werkes

Die Novelle umfasst etwa fünfzig Druckseiten.

Die Gliederung in Absätze stellt bereits die höchste Gliederungsebene dar, wiewohl Keller im Manuskript noch zwei Einschnitte markierte: Vor dem Absatz »Bei alldem verlebte Strapinski, was er in seiner Dunkelheit früher nie gekannt hatte, eine schlaflose Nacht um die andere, […]« (306) und vor dem Absatz »Inzwischen erhob auch Nettchen sich von ihrem einsamen Sitze« (317). In der von Keller durchgesehenen Druckfassung fallen diese Einschnitte aber weg (vgl. Villwock 126).

In der Forschung sind verschiedene Gliederungen vorgeschlagen worden (vgl. Villwock 126-128).

Am Anfang der Novelle sind die Verhältnisse noch sehr übersichtlich. Der Weg auf der Landstraße hebt sich von allem übrigen dadurch ab, dass Strapinski hier noch als er selbst unterwegs ist. Die Aufenthalte im Gasthaus und beim Amtsrat, ja noch der Spaziergang am Folgetag werden überwiegend szenisch wiedergegeben und heben sich so von den folgenden raffenden Passagen ab. Die strukturelle Bedeutung dieser Phase der Handlung erschließt sich am ehesten aus ihrem Ende. Wann kann der Erzähler von der detaillierten in die raffende Erzählweise übergehen, wann kann er seinen Held ›laufen lassen‹? Die Antwort ist: Sobald die Liebeshandlung soweit entwickelt wurde, dass Liebes- und Betrugshandlung sich wechselseitig stützen – dass der Held, durch die Liebe gebunden, nicht mehr wegzulaufen droht. Letztlich kann noch die Verlobung als eine Wiederholung und abermalige Bestätigung dieser wechselseitigen Abhängigkeit aufgefasst werden.

Insofern passiert erst mit der Identifikation Strapinskis durch die Seldwyler auf dem Verlobungsfest etwas strukturell Neues. Der Erzähler wechselt wieder zu szenischem Erzählen, das sich auch hier bis auf den Folgetag erstreckt. Dabei ist die raum-zeitliche Organisation der Erzählung komplexer als in der Eröffnungsphase der Novelle. Der Erzähler muss Strapinski im Schnee ›liegen lassen‹ und zu Nettchen ›zurückkehren‹.

Der geraffte Epilog der Novelle ist wieder deutlich vom Rest geschieden.

Die Schwierigkeiten liegen also allein in der zweiten Hälfte, und sie haben ihre Ursache in der Phasenverschiebung von Liebes- und Hochstaplerhandlung. Für die Liebeshandlung ist die erste Verlobung ein entscheidender Schritt, eine große Neuerung. Im Rahmen der Hochstaplerhandlung und im Verhältnis von Hochstapler- und Liebeshandlung aber wiederholt sich nur, wie gesagt, ein bereits zweifach angetroffenes Motiv. Die Enttarnung durch die Seldwyler ist für die Hochstaplerhandlung der entscheidende Wendepunkt. Was er für die Liebeshandlung bedeutet, zeichnet sich aber nur versetzt, nämlich in der Aussprache im Bauernhaus ab. Die Ergebnisse dieser Aussprache wiederum werden mit einiger Verzögerung auch im öffentlichen Verkehr, also auf der Ebene der Hochstaplergeschichte, umgesetzt.

Wo soll man also den Einschnitt setzen? Bei der Verlobung, bei der Enttarnung, bei der Aussprache, bei der Hochzeit? Immer wird sich zeigen, dass entscheidende Entwicklungen in dem jeweils anderen Bereich noch nicht oder schon erfolgt sind.

Was für die Frage der Gliederung eine Schwierigkeit ist, ist für die Dynamik der Novelle freilich ein großer Gewinn.

Veröffentlicht am 24. Januar 2024. Zuletzt aktualisiert am 24. Januar 2024.