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Kleider machen Leute

[Abends beim Amtsrat] S. 295-302

Zusammenfassung

Der junge Pütschli, in dessen Jagdwagen Strapinski mitfährt, fragt seinen Gast, ob er selbst lenken möchte, und tatsächlich kann Strapinski gut kutschfahren: Denn er hat als Junge öfter bei Gutsherren ausgeholfen und seine Militärzeit bei den Husaren abgeleistet.

Der Amtsrat, als er von dem Polen hört, der sein Gast sein soll, verbessert die Bewirtung und lässt den Roten Sauser auftischen. Die Gesellschaft teilt sich in zwei Kartenspiele, und Strapinski, der mitzuspielen ablehnt, sitzt in der Mitte und wird von den anderen unterhalten. Seine in der Jugend bei den Gutsherren gewonnenen Kenntnisse von der Jagd helfen ihm, seine Rolle zu spielen, doch Melcher Böhni, der Buchhalter, erkennt an seinen zerstochenen Fingern seinen eigentlichen Beruf. Er möchte den Dingen aber ihren Lauf lassen und verhilft Strapinski unbemerkt zu dem Ersteinsatz bei dem Glücksspiel, das sie, zu alten Weinen übergegangen, nun beginnen. Strapinski spielt, unterstützt von Melcher, mit wechselndem Glück, und behält am Ende mehr Geld, als er jemals besessen hatte. Böhni beobachtet ihn scharf und ist sich nun vollständig über den Betrug im Klaren; weil er keinen bösen Willen am Werk sieht, hebt er ihn aber nicht auf.

Vor dem Abendessen geht man im Freien spazieren. Strapinski sieht darin eine gute Möglichkeit, unbemerkt zu entkommen. Von der nächsten Stadt aus will er mit dem Spielgewinn den Wirt der »Waage« bezahlen. Er entfernt sich etwas von der Gesellschaft, sieht dabei besonders melancholisch und vornehm aus, und gerade als er zu einem Feldweg gelangt, tritt ihm der Amtsrat mit seiner Tochter entgegen, der ihn zum Abendbrot einlädt und ihm Nettchen – so heißt die Tochter – vorstellt. Diese ist von Strapinski gleich angetan, redet viel mit ihm, und er versucht nun erstmals, seine Rolle besonders auszufüllen. Er genießt ihre Aufmerksamkeit bei Tisch und wird, als man zu singen beginnt, überredet, ein polnisches Lied vorzutragen. Weil er im Polnischen einmal gearbeitet hat, erinnert er sich, ohne die Worte zu verstehen, an ein derbes Volkslied. Der Vortrag wird begeistert aufgenommen.

Die Gesellschaft bricht nun auf. Zurück in der »Waage«, lässt Strapinski sich auf das Zimmer führen, und nun entdeckt der Wirt den Mangel an Gepäck: Das habe er vergessen, von dem Wagen abladen zu lassen. Strapinski verhindert, dass man einen Eilboten dem Wagen hinterhersendet, und macht den Wirt so vermuten, er werde aus politischen oder familiären Gründen verfolgt.

Analyse

Häufig beginnen Erzählungen im szenischen Modus. Die Figuren werden in einer bestimmten Szenerie, in einer Tätigkeit begriffen eingeführt, und dann erst werden Hintergrundinformationen nachgeliefert, dann erst folgen Raffungen größerer Zeiträume. In »Kleider machen Leute« reicht der erste szenische Zusammenhang – der erste Tag – bis über das erste Drittel des Gesamtumfangs der Novelle. Nach dem einleitenden, kurzen Stück auf der Straße gibt es mit dem Aufenthalt im Wirtshaus und mit dem Aufenthalt beim Amtsrat zwei beinahe gleich lange Teile mit vielen motivischen Entsprechungen.

Während im Wirtshaus Strapinski immer weiter in den Betrug hineingerät, treten beim Amtsrat diejenigen Kräfte auf den Plan, die ihm aus dem Betrug heraushelfen werden. Eröffnet wird mit dem Auftreten Nettchens die Liebeshandlung als die zweite, die Novelle insgesamt strukturierende Handlungsebene. Melcher Böhni hat eine Funktion auf beiden Ebenen: Er ist, weil er Strapinski durchschaut hat, jederzeit in der Lage, den Betrug aufzuheben, und er wird zu seinem Nebenbuhler bei Nettchen (worauf es jetzt noch keinen Hinweis gibt). Es versteht sich, dass dies eine günstige Position für ihn ist: Er kann seinen Rivalen, den Schneider, mühelos diskreditieren. Für Strapinskis Hochstapelei hat die sich andeutende Liebeshandlung eine katalysatorische Funktion:

    Er wandelte sich in kurzer Zeit um; während er bisher nichts getan hatte, um im geringsten in die Rolle einzugehen, die man ihm aufbürdete, begann er nun unwillkürlich, etwas gesuchter zu sprechen und mischte allerhand polnische Brocken in die Rede […]. (299)

Der Umkehrpunkt gleicht – wenn man die Parallelisierung etwas weitertreiben will – dem Moment, an dem er im Wirtshaus die Suppe angreift. Und wieder formuliert er bald darauf einen gegen die Realität gerichteten Entschluss zum Genuss des augenblicklichen Glücks:

    Das Türmchen, was sie da aufgestellt haben, dürfte leichtlich die letzte Speise sein, daran will ich mich halten, komme was da wolle! Was ich einmal im Leibe habe, kann mir kein König wieder rauben! (292)
    Aber dennoch empfand er dies Glück und sagte sich zum Voraus: Ach, einmal wirst du doch in deinem Leben etwas vorgestellt und neben einem solchen höheren Wesen gesessen haben. (300)

Es gibt aber auch durch beide Partien fortlaufende Steigerungen. Immer mehr wendet Strapinski auf, um seine Rolle zu bestätigen: seine Kenntnisse als Reiter und Kutschfahrer und die Redensarten, die er als Junge bei Gutsherren und Offizieren aufgeschnappt hat, »die ihm schon dazumal ausnehmend wohl gefallen hatten« (297). In dieser nachgeschobenen Bemerkung Kellers liegt wieder ein feines psychologisches Argument. Ein einfacher derber Handwerker hätte auch mit dem weiten Radmantel nicht zum Gegenstand der Projektionen der Goldacher werden können. Strapinskis Physiognomie und seine immer schon vorhandene Vorliebe für den vornehmen Habitus machen ihn erst dazu geeignet.

Einen unstrittigen Höhepunkt findet die komische Linie in der Darbietung des polnischen Volksliedes. Der Erzähler bringt hier die Null-Fokalisierung (das heißt die Abwesenheit einer Beschränkung der von dem Erzähler zu vermittelnden Informationen) gekonnt zur Geltung, wenn er dem Leser den Liedtext übersetzt, den weder Strapinski noch die anwesenden Herren und Damen verstehen. Strapinski weiß nur, dass er nicht weiß, was das Lied bedeutet.

Veröffentlicht am 24. Januar 2024. Zuletzt aktualisiert am 24. Januar 2024.