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Kleider machen Leute

Zitate und Textstellen

  • »An einem unfreundlichen Novembertage wanderte ein armes Schneiderlein auf der Landstraße nach Goldach, einer kleinen reichen Stadt, die nur wenige Stunden von Seldwyla entfernt ist.«
    – Erzähler, S. 286

    Mit diesem Satz beginnt die Novelle. Ihr vorangegangen ist die Einleitung in den zweiten Teil des Novellenzyklus der »Leute von Seldwyla«. Deswegen genügt die Richtungsangabe »nach Goldach«. Dass Strapinski von Seldwyla aus aufgebrochen ist, wird aber im nächsten Satz indirekt noch einmal bestätigt: »[…] denn er hatte wegen des Falliments irgend eines Seldwyler Schneidermeisters seinen Arbeitslohn mit der Arbeit zugleich verlieren und auswandern müssen.« Das Diminutiv »Schneiderlein« lässt, in Anlehnung an das Grimmsche Märchen »Das tapfere Schneiderlein«, an einen Märchenheld denken.

  • »Solcher Habitus war ihm zum Bedürfnis geworden ohne daß er etwas Schlimmes oder Betrügerisches dabei im Schilde führte; […].«
    – Erzähler, S. 286

    Die vornehme Kleidung, die Strapinski übrigens »mit großem Anstand zu tragen wußte« (286), ist für ihn nicht Mittel zu irgendeinem Zweck. Das Gefallen, das er an ihr findet, ist ein rein ästhetisches Gefallen. Tatsächlich versäumt der Erzähler nicht, sogleich die negativen sozialen Folgen zu benennen, die die Eigenheit Strapinskis nach sich zieht: Es fällt ihm schwer, in den vornehmen Sachen zu betteln. Anstatt also, dass er sich durch den Radmantel und die Pelzmütze einen Vorteil verschaffte, nimmt er einen in seiner Lage gewichtigen Nachteil in Kauf.

  • »Der Wagen war mit allerlei Vorrichtungen zur Aufnahme des Gepäcks versehen und schien deswegen schwer bepackt zu sein, obgleich alles leer war.«
    – Erzähler, S. 287

    An dem Reisewagen, dessen Passagier Strapinski werden wird, wiederholt sich die gestörte Beziehung von Zeichen und Bezeichnetem, die schon an seiner Person aufschien. So wie Strapinski als vornehmer Herr erscheint, obgleich er betteln müsste, scheint der leere Wagen schwer bepackt zu sein. Der Umstand ist für die Aufnahme in dem Goldacher Wirtshaus entscheidend.

  • »Der Raum zwischen dem Reisewagen und der Pforte des Gasthauses war schmal und im Übrigen der Weg durch die Zuschauer ziemlich gesperrt. Mochte es nun der Mangel an Geistesgegenwart oder an Mut sein, den Haufen zu durchbrechen und einfach seines Weges zu gehen, – er tat dieses nicht, sondern ließ sich willenlos in das Haus und die Treppe hinangeleiten und bemerkte seine neue seltsame Lage erst recht, als er sich in einen wohnlichen Speisesaal versetzt sah und ihm sein ehrwürdiger Mantel dienstfertig abgenommen wurde.«
    – Erzähler, 287 f.

    Hier wäre überhaupt die erste Gelegenheit für Strapinski gewesen, die Täuschung aufzuheben, der die Goldacher sogleich beim Eintreffen des Wagens verfallen sind. Aber kann vernünftigerweise von ihm erwartet werden, dass er mutwillig die Menge der Neugierigen durchbricht, wenn er selbst noch kaum begreifen konnte, für was er weshalb gehalten wird? Die Goldacher – das zeigt sich nach und nach – wollen die Sensation, sie wollen, dass ein romantisch aussehender polnischer Graf bei ihnen absteigt. Hiergegen anzukommen, bedürfte es eines frischen Willens und einiger Durchsetzungsfähigkeit, die Strapinski gerade abgehen.

  • »Aber Herr! Sie können ja dem einzigen Gast das nicht alles aufrechnen, das schlägt’s ja beim besten Willen nicht heraus!«
    – Köchin, S. 289

    Der Wirt und die Köchin denken beide ökonomisch, und weil sie ökonomisch denken, denken sie egoistisch. Die Köchin befürchtet, man werde, wenn man jetzt noch zum Zuckerbäcker laufe und Backwerk hole, wie der Wirt gerade gefordert hat, die Ausgaben durch die Rechnung, die man dem Gast vernünftigerweise präsentieren könnte, nicht mehr decken. Der Wirt weiß das, aber er denkt langfristig: Die Reputation, die er durch die hervorragende Bewirtung des vornehmen Grafen gewinnt, ist die Investition wert. Für ihn stellt Strapinski also die Gelegenheit für eine Werbeaktion dar. Möglich, dass er, um diese nicht zu gefährden, sogar willig gewesen wäre, die Täuschung über den Stand des Schneiders aufrechtzuerhalten, selbst wenn Strapinski sich ihm offenbart hätte.

  • »Endlich faßte er sich einen Mut, nahm seinen Mantel um, setzte die Mütze auf und begab sich hinaus, um den Ausweg zu gewinnen.«
    – Erzähler, S. 290

    Strapinski fehlt es durchaus nicht an dem Willen, seine Lage zu verändern. Zugleich möchte er eine allzugroße Beschämung ersparen. Anstatt den Wirt direkt über seine Verhältnisse aufzuklären, sucht er den Moment aus, indem das Essen zubereitet wird und er eine kleine Weile unbeobachtet bleibt, um unbemerkt davonzugehen. Dann wird ihm aber wieder seine Höflichkeit zum Verhängnis, denn ein Kellner meint, er suche die Toilette. Ihm vermag er nicht zu widersprechen.

  • »Er nahm sich mit seiner bewölkten Stirne, seinem lieblichen, aber schwermütigen Mundbärtchen, seinen glänzenden schwarzen Locken, seinen dunklen Augen, im Wehen seines faltigen Mantels vortrefflich aus; der Abendschein und das Säuseln der Bäume über ihm erhöhte den Eindruck, so daß die Gesellschaft ihn von Ferne mit Aufmerksamkeit und Wohlwollen betrachtete.«
    – Erzähler, S. 298

    An mehreren Stellen sieht der Erzähler von dem Befinden und der Perspektive des Schneiders, die er doch hauptsächlich verfolgt, ab und skizziert seine Erscheinung gleichsam von außen aus der Perspektive derjenigen, die ihn für einen Grafen halten. Ein gewisser Humor liegt in diesen Passagen. In Wirklichkeit versucht Strapinski, sich aus der Gesellschaft loszumachen, in Wirklichkeit sucht er nach einem geeigneten Ausgang aus dem Garten.

  • »Nur Melcher Böhni, der Buchhalter, als ein geborener Zweifler, rieb sich vergnügt die Hände und sagte zu sich selbst: Ich sehe es kommen, daß es wieder einen Goldacher Putsch gibt, ja, er ist gewissermaßen schon da! Es war aber auch Zeit, denn schon sind’s zwei Jahre seit dem letzten! Der Mann dort hat mir so wunderlich zerstochene Finger, vielleicht von Praga oder Ostrolenka her!«
    – Erzähler / Böhni, S. 297

    Auch in Clemens Brentanos »Schneider Siebentot auf einen Schlag« – einem der möglichen literarischen Vorbilder für die Novelle – erregen die zerstochenen Finger des angeblichen Adligen ersten Verdacht (vgl. 756). Das Motiv ist also nicht neu. Bedeutsam ist es vor allem, weil es noch einmal beweist, wie sehr die übrigen Goldacher den polnischen Grafen wollen. Es hätte, zumal an dieser Stelle, gar nicht viel bedurft, ihn zu enttarnen.

  • »Denn er mochte tun oder lassen, was er wollte, Alles wurde als ungewöhnlich und nobel ausgelegt und die Ungeschicklichkeit selbst als merkwürdige Unbefangenheit liebenswürdig befunden von der jungen Dame, welche sonst stundenlang über gesellschaftliche Verstöße zu plaudern wußte.«
    – Erzähler, S. 300

    An dieser Stelle spricht der Erzähler aus, was schon im Wirtshaus an vielen Stellen zu beobachten war. Die falsche Grundannahme über den vornehmen Stand Strapinskis erzeugt eine interpretatorische Eigendynamik. Obwohl Strapinski nicht bewusst die Rolle des Grafen zu spielen sucht, obwohl er sich ehrlich und natürlich als der eingeschüchterte, etwas zaghafte und höfliche Mensch verhält, der er ist, wird ebendieses Verhalten als Ausweis seiner gräflichen Natur gedeutet.

  • »Er bedeckte ihre glühenden Wangen mit seinen fein duftenden dunklen Locken und sein Mantel umschlug die schlanke, stolze, schneeweiße Gestalt des Mädchens wie mit schwarzen Adlersflügeln; es war ein wahrhaft schönes Bild, das seine Berechtigung ganz allein in sich selbst zu tragen schien.«
    – Erzähler, S. 308

    Wieder nimmt der Erzähler eine Außenperspektive ein und schildert die Erscheinung Strapinskis in rein ästhetischer Perspektive. Offenbar wohnt dem »Bild«, das hier für einen Moment festgehalten wird, eine Wahrheit inne, die es selbst gegen die Tatsache feit, dass das wechselseitige Liebesgeständnis Nettchens und Wenzels noch auf der Täuschung über Wenzels Stand beruht.

Veröffentlicht am 24. Januar 2024. Zuletzt aktualisiert am 24. Januar 2024.