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Kleider machen Leute

Historischer Hintergrund und Epoche

Die Novellensammlung »Die Leute von Seldwyla« gilt als ein Höhepunkt deutscher Erzählkunst im 19. Jahrhundert und wird dem poetischen Realismus zugeschrieben. Der erste Teil der Sammlung erschien 1855 und enthielt fünf Novellen. Weitere fünf Novellen folgten im zweiten Teil, der zwischen Oktober 1873 und November 1874 publiziert wurde. Die Novellensammlung kommt ohne Rahmenhandlung aus, es gibt aber in jedem Teil eine Seldwyla als (fiktiven) Schauplatz vorstellende Einleitung. Die Sammlung ist insgesamt sehr sorgsam, nämlich spiegelsymmetrisch komponiert. Damit entspricht der Novelle »Kleider machen Leute«, die den zweiten Teil eröffnet, die letzte Novelle des ersten Teils, »Spiegel, das Kätzchen«. Die Entsprechungen finden sich im motivischen Bereich: in beiden Novellen gibt es Glück durch Lüge, in beiden werden Märchenstoffe verarbeitet (vgl. Villwock 123).

Die stofflichen Vorgaben, auf denen die Novelle aufbaut, sind reich gestreut: Sie reichen von Motiven der antiken Literatur bis hin zu aktuellen Zeitungsmeldungen.

Es gibt explizite Verweise auf die »Ilias« und die Herakles-Sage.

Das Maskenspiel, das der Enttarnung Wenzels dient, hat in dem Schauspiel sein Vorbild, das in Shakespeares »Hamlet« im dritten Akt aufgeführt wird und dem usurpatorischen König sein Verbrechen vor Augen führt.

Der Titel der Novelle ist ein Sprichwort, das auf eine Stelle in der »Institutio oratoria« des römischen Rhetorikers Quintilian zurückgeht. Dort heißt es in VIII 5: »vestis virum reddit« (»die Kleidung ergibt den Mann«) (vgl. 752).

Einen weiteren Schwerpunkt bilden einige romantische Märchen und Kunstmärchen mit prominenten Schneiderfiguren, darunter »Der Schneider im Himmel« (Grimm), »Das kluge Schneiderlein« (Grimm), »Schneiders Siebentod auf einen Schlag« (Brentano), »Leben des berühmten Kaisers Abraham Tonelli« (Tieck).

Das Schneiderhandwerk in seinen volkstümlichen Stilisierungen und Polen bietet einen reichen stofflichen Vorrat. Der auf dem Seldwyler Maskenzug der Fortuna nacheilende, riesige Bock wird dem Schneiderhandwerk traditionell zugeordnet. Entscheidend für die Eigenschaften, die den Schneidern zugesprochen wurden, ist die relative Bewegungsarmut ihres Handwerks (sie arbeiten sitzend) und der geringe Kraftaufwand.

    Ihre Tätigkeit galt als unmännlich, sie waren aber auch allerlei Verdächtigungen ausgesetzt, da sie als einzige Männer fremden Frauen nahe kommen durften. Schneider galten als eitel, großmannssüchtig und prahlerisch (als ›Aufschneider‹), aber auch – wohl aus der Not ihrer körperlichen Schwäche geboren – als schlau, behende, listig und einfallsreich, aufgeweckt und lustig. Zudem gab ihnen die weder körperlich noch geistig anspruchsvolle, ruhige Arbeit mehr als allen anderen Handwerkern Gelegenheit, nachzudenken und zu politisieren […], aber auch zu träumen und fantasieren, fabulieren und erzählen. (Villwock 107)

Geschichten von Hochstaplern waren immer wieder im Umlauf. So gab sich 1839 bei einem geflüchteten Polen, Graf Alexander Sobansky, ein entlassener Jägerbursche von dessen Freund Graf Normann für den Sohn dieses Grafen aus:

    Viele Bürgerliche wollten aus seinem sehr ungeschliffnen Benehmen, seiner Großsprecherei, seiner Wüstlingsmiene und der Entblößung von allen Mitteln Zweifel seiner vornehmen Herkunft schöpfen; allein der höhern Critic seiner hiefür competenteren Standesgenossen erschienen dieß als eben so viele Ahnenproben; das letztere war zudem ganz erklärlich, da er nach seinem Vorgeben in der Heimat im Duell seinen Gegner getödtet und nun als Flüchtling das polenfreundliche Winterthur zu seinem Zufluchtsort zu bestimmen geruhte. – Dieß both ja zugleich erwünschte Gelegenheit eine Probe vornehmen Mitleids durch Beisteuern abzulegen, die – später ja tausendfach wieder ersetzt werden sollte. (Anonym: Graf Normann und die Winterthurer Noblesse, in: »Wilhelm Tell« (Zeitung), 13.12.1839; abgedruckt bei Villwock 76 f.)

Die Entsprechungen zu Kellers Novelle gehen noch weiter, denn der vermeintliche Graf hat wegen seiner Flucht nichts bei sich und wird von den Winterthurern, bevor er plötzlich verschwindet, kostbar ausgestattet.

Das Manuskript der Novelle ist erhalten (51 Seiten), aber nicht datiert. Eine längere Unterbrechung der Niederschrift lässt sich durch eine veränderte Schreibweise des Buchstaben ›g‹ nachweisen, sie liegt vor der Frage Nettchens nach den vermuteten erotischen Abenteuern Wenzels während der Aussprache im Bauernhaus. Villwock vermutet die erste Phase der Entstehung zwischen 1865 und 1869, die zweite dann zwischen Ende 1870 und Dezember 1872.

Veröffentlicht am 24. Januar 2024. Zuletzt aktualisiert am 24. Januar 2024.