Skip to main content

Kleider machen Leute

Interpretation

Die Eigendynamik sozialer Zeichendeutung

Ein Blick auf die möglicherweise als Vorlage der Novelle gedient habende Geschichte von dem falschen Graf Normann in Winterthur belegt am echten Fall, was gemäßigter auch die Novelle vorführt. Dort konnte der entflohene Jagdbursche seine groben Sitten nicht verbergen, und die Bürgerlichen werden deshalb zurecht misstrauisch: »allein der höhern Critic seiner hiefür competenteren Standesgenossen erschienen dieß als eben so viele Ahnenproben« (Villwock 76), bemerkt der anonyme Berichterstatter in der Zeitung »Wilhelm Tell« mit einiger Süffisanz. Dem Jagdburschen gingen die feinen Sitten ab, aber er hatte den Vorsatz zum Betrug; Wenzel Strapinski hat die feinen Sitten (oder jedenfalls etwas, das so ähnlich aussieht), aber nicht den Vorsatz. Gleichgültig! – so die Lehre der Novelle, wenn nur am rechten Ort, von der rechten Person an seinen höheren Stand geglaubt wird. Ist die Deutungsmaschinerie einmal in Gang, kann einiges an Abweichung interpretativ integriert werden, wenn nur die Grundannahme nicht angetastet zu werden braucht. Die Winterthurer, die sich in Unkosten gestürzt hatten, um den falschen Grafen auszustatten, sehen aus Angst vor dem Skandal und vor ihrer eigenen Beschämung von einer Anzeige gegen ihn ab. Wer weiß, wie die Sache für Wenzel ausgegangen wäre, wenn nicht die Seldwyler den Mut zum Eklat gehabt hätten! Der Wirt hätte sicherlich den Schneider lieber im Guten ziehen als sich nachsagen lassen, er sei Opfer des Scherzes eines Kutschers geworden.

Was ist am Ende Wenzels Charakter? Seine unschuldige Eitelkeit übernimmt er von seiner Mutter, von der er im entscheidenden Moment nicht loskommt. Sind Geschäftstüchtigkeit und Strenge, die ihn zuletzt charakterisieren, seine wahren Eigenschaften? Sie lassen sich leicht dem Einfluss Nettchens zurechnen. Übrig bleibt dann nur eine leichte Bildsamkeit, ein Hang zum Nachgeben und zur Abhängigkeit von starken, selbständigen Frauenfiguren. 

Spiegelung als Strukturprinzip

Das Hineinkopieren eines Aspekts der Novelle in die Diegesis der Novelle kann verschiedentlich – nicht nur bei dem Maskenspiel der Seldwyler auf dem Verlobungsfest – nachgewiesen werden.

So kann die Novelle insgesamt als Apologie Strapinskis, als Verteidigungs- oder Prozessschrift gelesen werden. Eine gerichtliche Dimension nimmt sein Fall aber auch in der Diegesis am Ende der Handlung an, wenn der Anwalt sich seiner Sache annimmt und die Frage nach seiner Schuld oder Unschuld aufwirft, von der die Heirat abhängt. Hier fällt auf, dass der (allwissende) Erzähler spitzfindiger und strenger die Bereitschaft Wenzels aufdeckt, die um ihn entstandene Täuschung zu bekräftigen. Wenn der Anwalt die Sache vor das weltliche Gericht bringt, vor das Gericht der Öffentlichkeit jedenfalls – vor wem führt der Erzähler seine Sache? Ist das eine göttliche Perspektive, oder die Perspektive des innersten Gewissens? Oder appelliert er an nichts als die menschliche Anteilnahme des Lesers?

Die Goldacher machen sich ein (falsches) Bild von Strapinski – auch der Erzähler macht an herausgehobenen Stellen von ihm Bilder, die diesen falschen Grundannahmen entsprechen, oder sie jedenfalls zu plausibilisieren vorgeben. Diese Beschreibungen – so sehr sie auch hinsichtlich ihrer Folgerungen durchschaut werden mögen – formen auch die Vorstellung, die sich die Leser von dem Helden machen. Betroffen sind vor allem die Stellen von der ersten Verlobung mit Nettchen und von dem erfrierenden Wenzel: 

Ja, er war es. Der dunkelgrüne Samt seines Rockes nahm sich selbst auf dem nächtlichen Schnee schön und edel aus; der schlanke Leib und die geschmeidigen Glieder, wohl geschnürt und bekleidet, alles sagte noch in der Erstarrung, am Rande des Unterganges, im Verlorensein: Kleider machen Leute! (319 f.) 

Die Stelle ist nicht ohne ernste Ironie, denn Wenzel hat sich aus allem gesellschaftlichen Verkehr in diesem Moment verabschiedet. Er sieht sich als Ausgeschlossenen und ist mit seinem ganzen Wesen, nicht nur dem sozialen, zu sterben bereit. Dennoch bezieht sich das Erkennen, das sich in dem »Ja, er war es« ausdrückt, nicht auf einen endlich im Schnee und kurz vor dem Erfrieren bloßgelegten Wesenskern, sondern wieder nur auf die schöne Hülle – die schönen Kleider, die er natürlich nicht abgelegt hat. Das Ästhetische behauptet sich hier gegenüber dem Eigentlichen (was immer das genau sei) mit einer nahezu bitteren Unverwüstlichkeit. Die zeigt sich aber auch darin, dass dem Leser der Anblick des schönen Wenzel in seinen schönen Kleidern, wie er da im Schnee liegt und erfriert, gefallen wird – mehr gefallen, als wenn es ein hässlicher Mensch in Lumpen wäre. James Bond ist James Bond (in den älteren Filmen), weil ungeachtet der Schlägereien und Gefechte, in die er verwickelt wird, sein Anzug keinen Schaden leidet. Auch hier ist Ironie am Werk – aber das Auge fragt gar nicht danach. Es will den schönen Anblick um seiner selbst willen.

Eine besonders schöne Stelle schließlich betrifft die Art und Weise, in der Strapinski nun doch auf die Vorstellungen der Goldacher bewusst Einfluss übt. 

Nun war der Geist in ihn gefahren. Er lernte in Stunden, in Augenblicken, was andere nicht in Jahren, da es in ihm gesteckt hatte wie das Farbenwesen im Regentropfen. Er beachtete wohl die Sitten seiner Gastfreunde und bildete sie während des Beobachtens zu einem Neuen und Fremdartigen um; besonders suchte er abzulauschen, was sie sich eigentlich unter ihm dächten und was für ein Bild sie sich von ihm gemacht. Dies Bild arbeitete er weiter aus nach seinem eigenen Geschmacke, zur vergnüglichen Unterhaltung der einen, welche gern etwas Neues sehen wollten, und zur Bewunderung der anderen, besonders der Frauen, welche nach erbaulicher Anregung dürsteten. So ward er rasch zum Helden eines artigen Romanes, an welchem er gemeinsam mit der Stadt und liebevoll arbeitete, dessen Hauptbestandteil aber immer noch das Geheimnis war. (305 f.) 

Das freilich ist eine vollendete Poetik.

Veröffentlicht am 24. Januar 2024. Zuletzt aktualisiert am 24. Januar 2024.