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Kleider machen Leute

[Auf der Landstraße] S. 286-287

Zusammenfassung

Der Schneider Wenzel Strapinski ist bei schlechtem Wetter auf der Landstraße von Seldwyla in das wenige Stunden entfernte Goldach unterwegs. Er muss wegen des Konkurses eines Seldwyler Schneidermeisters auswandern, um eine neue Anstellung zu suchen, und hat kein Vermögen, denn sein Lohn war Teil der Konkursmasse. Er hat noch nicht gefrühstückt und weiß nicht, wie er an ein Mittagessen kommen soll, denn Betteln kann er nicht: Es ist ihm zur Gewohnheit geworden, sich etwas vornehmer zu kleiden, als es seinem Stand entspräche, und so trägt er auch jetzt einen weiten Radmantel und eine polnische Pelzmütze, von denen er sich auch um des Brotes willen nicht trennen wollte. Folge dieser Gewohnheit ist, dass er die Arbeit in größeren Städten bevorzugt, wo er wenig auffällt; und Folge ist auch, dass er, wenn er erwerbslos wandern muss wie jetzt, einen Eindruck auf die Leute macht, dem durch die Bitte um Unterhalt zu widersprechen er sich nicht überwinden kann.

Bei einer Anhöhe trifft er auf einen herrschaftlichen Kutscher, der seinem in der Ostschweiz lebenden Herrn einen neuen und bequemen Reisewagen zuführt. Der Wagen ist zwar mit vielen Vorrichtungen zur Aufnahme von Gepäck versehen, in Wirklichkeit aber leer. Der Kutscher geht auf dem steilen Stück neben dem Wagen her, als er sich aber oben angekommen auf den Bock setzt und Strapinski erblickt und es außerdem gerade zu regnen beginnt, lädt er ihn ein, in dem leeren Wagen mitzufahren.

Analyse

Das Spiel der Novelle mit archetypischen Erzählmustern hat in ihrer Eröffnung einen Schwerpunkt. Der Held muss das gewohnte, heimatliche Umfeld verlassen, er begibt sich auf den Weg, um woanders Anschluss zu finden, und da er einmal auf dem Weg ist, kann ihm etwas zustoßen. Verlässlich stößt ihm denn auch etwas zu. Häufig ist das, was er von der Glücksgöttin an die Hand bekommt, ein verwickeltes Angebot: Nicht das, weswegen er eigentlich auf die Straße ging, sondern (in diesem Fall) etwas besser scheinendes (die Grafenrolle), viel schlechteres (der Tod im Schnee) – und am Ende doch das, weswegen er loszog (das mit Nettchens Kapital gegründete Tuchgeschäft). Ein Umweg also, der Gefahren birgt (die gesellschaftliche Ächtung), aber auch einen unverhofften Gewinn (Nettchen).

Fortuna tritt typischerweise in Form eines überlegenen Reisegefährts an den Helden heran. So schon in Christian Reuters »Schelmuffsky«:

    Doch hätte ich mich endlich auch nicht groß an das Verschweren gekehret, weil ich sonst wohl eher was verschworen und es nicht gehalten hatte, sondern würde unfehlbar wieder zu meiner Fr. Mutter gewandert seyn, wann nicht ein Graf auf einen Schellen-Schlitten wäre qver Feld ein nach mir zu gefahren kommen und mich gefraget: wie ich so da in Gedancken stünde? (Schelmuffsky, Kap. 2)

Und in »Aus dem Leben eines Taugenichts«:

    Indem wie ich mich so umsehe, kömmt ein köstlicher Reisewagen ganz nahe an mich heran, der mochte wohl schon einige Zeit hinter mir drein gefahren seyn, ohne daß ich es merkte, weil mein Herz so voller Klang war, denn es ging ganz langsam, und zwei vornehme Damen steckten die Köpfe aus dem Wagen und hörten mir zu. (Taugenichts, Kap. 1)

Während der Taugenichts in dem Reisewagen bereits die Gräfin vorfindet, in deren Schloss er bald eine Gärtnerstelle antritt, und Aurelie, in die er sich verliebt und die er schließlich heiratet, ist der Wagen, der Strapinski überholt, leer. Es handelt sich gewissermaßen um eine Leerfahrt zum Zweck allein der Überführung des neu erworbenen Gefährts von dem Kaufort zu dem Wohnort des fremden Grafen »irgendwo in der Ostschweiz« (287). Die Leere des Wagens ist dabei von außen nicht unmittelbar ersichtlich, ja im Gegenteil: »Der Wagen war mit allerlei Vorrichtungen zur Aufnahme des Gepäckes versehen und schien deswegen schwer bepackt zu sein, obgleich alles leer war.« (287)

Man wird in diesem falschen Anschein unschwer eine symbolische Vorwegnahme dessen erkennen, was Strapinski in Goldach widerfahren soll, und diese Effektivität der Bedeutungsgebung und die Dichte der Bedeutungsträger in diesen ersten vier Absätzen sind ihrerseits typisch für den evozierten Erzähltyp. So wird ohne Umschweife der für die Handlung entscheidende Zug im Wesen des Helden benannt: Sein Bedürfnis nach leicht unangemessener, nämlich vornehmer Kleidung, das ihm gerade in der Situation der erwerbslosen Wanderschaft zum Hindernis wird.

Die Sparsamkeit bei der Beschreibung des Helden und etwa dem Einsatz der Handlung vorangegangener Ereignisse (erwähnt wird nur der Konkurs des vormaligen Arbeitgebers) erhält ihr märchenhaft stilisiertes Profil vor allem im Vergleich mit den sehr viel umständlicheren und genaueren Informationen, die der Leser der Befragung Nettchens im letzten Teil der Novelle entnehmen kann (vgl. 322-326). Immerhin unterscheidet sich Strapinski auch zu Beginn schon vom typischen Märchenheld dadurch, dass er nicht zum ersten Mal auszieht (wie der Taugenichts, wie Schelmuffsky). Darauf deutet nämlich der Satz: »wenn er wanderte und keine Ersparnisse mitführte, geriet er in die größte Not« (286 f.), in dem der Subjunktor »wenn« in Verbindung mit dem Präteritum auf einen häufiger eintretenden Fall schließen lässt.

Veröffentlicht am 24. Januar 2024. Zuletzt aktualisiert am 24. Januar 2024.