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Kleider machen Leute

[Der gute Ausgang] S. 327-332

Zusammenfassung

Nettchen ist vor drei Tagen volljährig geworden und Herrin ihres Schicksals. Sie fährt mit Wenzel nach Seldwyla. Er führt sie in das Gasthaus »Zum Regenbogen« und nimmt selbst ein Zimmer im »Wilden Mann«. Die noch versammelten Schlittenfahrer wundern sich und sprechen von einer Entführung. Auch in Goldach wird so geredet.

Böhni und der Amtsrat fahren früh am nächsten Morgen den Flüchtigen hinterher und wären durch Seldwyla hindurchgefahren, wenn sie nicht den Schlitten Fortuna vor dem Gasthaus Zum Regenbogen gesehen hätten. Sie erfahren von Nettchens Aufenthalt, und nach einer längeren Weile lässt Nettchen ihren Vater zu sich heraufbitten. Sie hat inzwischen den besten Rechtsanwalt der Stadt rufen lassen – er solle am Vormittag erscheinen.

Nettchen stellt ihrem Vater vor, sie wolle die nächsten Jahre nicht mehr in Goldach leben; sie wünsche die Auszahlung des mütterlichen Erbes, die für den Fall ihrer Verheiratung vorgesehen war; sie wolle Wenzel heiraten und mit ihm in Seldwyla ein Geschäft gründen – und sie sei von seinem guten Charakter überzeugt und glaube, dass alles gut werde. Der Vater verweist auf die Unmöglichkeit von ihrem und Wenzels Verhältnis und sieht in der unmittelbaren Heirat Böhnis den einzigen Ausweg, ihre Ehre zu erhalten. Sie geraten nun doch aneinander und Nettchen bricht in Tränen aus. Wenzel und Böhni dringen herein, aber auch der Rechtsanwalt, der Böhni und Wenzel bis auf weiteres fortschickt. Die Tochter solle den guten Ton wahren und der Vater sich jeden Zwanges enthalten, weil sie volljährig sei.

Der Anwalt erwähnt in Seldwyla, dass durch die Heirat Nettchens und Wenzels vielleicht ein großes Vermögen in die Stadt käme, und bringt so die Seldwyler alle auf Nettchens Seite. Sie halten sich bereit, ihre Überführung nach Goldach notfalls mit Gewalt zu verhindern, und so bieten auch die Goldacher am nächsten Tag eine Anzahl bewaffneter Männer auf. Bevor es aber zum Kampf kommt, treten die höheren weltlichen und geistlichen Herren beider Städte in Unterhandlung, mit dem Ergebnis, dass das Aufgebot von Wenzels und Nettchens Ehe stattfinden sollte, und dass man sehen wolle, welche Einsprüche dann erhoben würden.

Wegen Nettchens Volljährigkeit kann nur die zweifelhafte Person des falschen Grafen Strapinski noch angegriffen werden. Der Anwalt aber bestätigt den tadellosen Ruf, in dem Wenzel bis zur Ankunft in Goldach gestanden hatte, und ermittelt, dass er sich selbst nie für einen Grafen ausgegeben, sondern von den anderen dazu gemacht worden sei. Er habe außerdem immer mit seinem rechten Namen unterschrieben.

Die Hochzeit findet also statt. Wenzel gründet wirklich sein Geschäft und hat damit großen Erfolg. Er verliert sein träumerisches Wesen, versöhnt sich mit dem Amtsrat und sieht den Seldwylern nichts nach. Nach zehn oder zwölf Jahren zieht er mit seiner kinderreichen Familie nach Goldach und lässt in Seldwyla nichts zurück.

Analyse

Auch am Ende der Novelle beweist der Erzähler ein großes Maß an Beweglichkeit. Tatsächlich ist noch viel zu tun: Die drei Handlungsebenen der Liebeshandlung, der Hochstaplergeschichte und der Auseinandersetzung zwischen Seldwyla und Goldach müssen koordiniert und gemeinsam zum Abschluss gebracht werden.

Am wenigsten geschieht im Hinblick auf die Liebeshandlung. Die Treue, die sich Wenzel und Nettchen in dem Bauernhaus geschworen haben, wird von den Schwierigkeiten, die der Hochzeit noch im Weg stehen, nicht mehr in Gefahr gebracht. Was die Veränderung Wenzels zum tüchtigen Geschäftsmann für die junge Ehe bedeutet, wird nicht gesagt. Der Kinderreichtum soll wohl für sich sprechen.

Die Seldwyler hatten, angeleitet von Böhni, die Enttarnung Strapinskis inszeniert, sie sind aber bereit, sich auf seine Seite zu schlagen, sobald das Gerücht von dem Vermögen umgeht, das durch Nettchens und Wenzels Heirat vielleicht in die Stadt kommt. Zu einer substanzielleren Entlastung des Hochstaplers kommt es dank des klugerweise von Nettchen engagierten Anwalts. Er vermag es, das, was auch bei Nettchen als Argument gegolten hatte – die sonstige Unbescholtenheit Wenzels –, durch Erkundigungen zu beweisen und in die öffentliche Beurteilung Wenzels einzubringen. Interessant ist vor allem seine Beurteilung der Goldacher Begebenheiten, wenn er befindet, »daß Wenzel sich eigentlich gar nie selbst für einen Grafen ausgegeben, sondern daß ihm dieser Rang von Andern gewaltsam verliehen worden« (331). Der Befund ist richtig, und für eine allgemeine, öffentliche Beurteilung der Sache von großer Bedeutung: Freilich ist Strapinski nicht mit dem Vorsatz nach Goldach gefahren, sich für einen Grafen auszugeben und von der Gastfreundschaft der dortigen höheren Gesellschaft zu profitieren. Deutlich wird anhand dieses im Parteienstreit vorgebrachten Arguments, wie hochauflösend die Erzählung bisher verfahren war: Gewiss mit mehr Sympathie für Wenzel, als der Anwalt aufbringt, aber auch mit größerer moralischer Strenge. Denn der aktiven Beförderung der Täuschung, in die die anderen geraten waren, wird er durchaus von dem Erzähler beschuldigt (vgl. nochmal 290 f.).

Während die Liebeshandlung recht besehen mit dem Gespräch im Bauernhaus ihren gültigen Abschluss fand, und während in der Hochstaplergeschichte die Entlastung, die Wenzel von Nettchen im Bauernhaus erfahren hatte, dank des Anwalts nun auch öffentlich vollzogen wird, gibt es auf der Ebene der Auseinandersetzung der zwei betroffenen Städte noch ganze Umschwünge und neue Bewegungen. Die Seldwyler werden, wie gesagt, von den ästhetischen Bestrafern Strapinskis zu seinen bewaffneten Verteidigern; der Krieg um Nettchen versandet, weil die Vorwürfe gegen Strapinski nicht standhalten und sich Nettchen gegen ihren Vater und Böhni am Ende durchsetzt. Die große Mitgift kommt tatsächlich nach Seldwyla, doch Strapinski legt in seinem Geschäft eine den Seldwylern wohl fremde und unangenehme Strenge an den Tag. Nach einem Jahrzehnt siedelt er, sein gesamtes Vermögen abziehend, nach Goldach über, »sei es aus Undank oder aus Rache« (332) – so das Schlusswort der Novelle. Undank wegen der angebotenen Verteidigung gegen die Goldacher, Rache wegen der spöttischen Enttarnung bei der Verlobungsfeier? Selbst für diese könnte er – denn sie brachte ihn aus seiner vertrackten Lage und führte ihm letztlich Nettchen zu – aus der Entfernung dankbar sein. Umgekehrt schuldet er dem Stadtvolk wegen der kriegerischen Allüren, wegen des Aufgebots gegen die Goldacher kaum etwas, denn die Sache wurde letztlich durch Vermittlung höherer Beamter und durch den Anwalt beigelegt und er selbst versöhnte sich bald völlig mit seinem Schwiegervater. Die plötzliche Parteinahme der Seldwyler hatte zudem rein egoistische, ökonomische Gründe.

Beiden vorgeschlagenen Motiven – Undank und Rache – haftet somit etwas Unzureichendes, leicht Verfehltes an.

Möglich ist aber auch, dass die Rache sich auf das Unverständnis bezieht, das die Seldwyler dem ordentlichen und gewissenhaften Wirtschaften Wenzels entgegenbrachten. Sie wussten am Ende das eingebrachte Vermögen, das sie zu der Parteinahme bewogen hatte, nicht zu schätzen – oder anders: Sie blieben ihrer leichtsinnigen Eigenart treu und verwehrten dem halben Goldacher die gültige Integration in die Stadtgemeinschaft.

Festzuhalten bleibt, dass die Substanz, aus der sich die Novelle speiste – der ästhetische Überschuss im Betragen, Kleiden und Denken Strapinskis und der ästhetische Überschuss bei denen, die ihn, um ihr Leben für einen Moment interessanter zu machen, für einen Grafen halten wollen – dass diese Substanz am Ende vollkommen verbraucht ist.

Veröffentlicht am 24. Januar 2024. Zuletzt aktualisiert am 24. Januar 2024.