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Kleider machen Leute

[Einkehr im Gasthof] S. 287-295

Zusammenfassung

In etwas weniger als einer Stunde kommen der Kutscher und Strapinski in Goldach an. Der Kutscher hält vor dem ersten Gasthof, »Zur Waage« genannt, und das kostbare Reisegefährt erregt bei den Wirtsleuten, Kindern und Nachbarn großes Aufsehen und Neugier auf den Reisenden. Strapinski hätte sich mutwillig durch die Menge schlagen müssen, um davonzugehen, lässt sich also in das Wirtshaus und die Treppe hinauf und in einen Speisesaal geleiten, wo er sogleich von dem Wirt in Empfang genommen und nach seinen Wünschen gefragt wird.

In der Küche treibt der Wirt die Köchin an, ein stattliches Mahl vorzubereiten, denn er möchte sich durch die gute Bewirtung des vornehmen Gasts einen guten Ruf verschaffen. Strapinski, für den schon gedeckt wird, möchte gerne entfliehen, doch er kennt sich in dem Haus nicht aus, und sein Umherirren wird so gedeutet, als suche er die Toilette, wohin ihn denn der Kellner führt. Dort verweilt Strapinski eine Weile, um dem falschen Glauben des Kellners den Anschein der Wahrheit zu geben. Der Wirt lässt im Speisezimmer einheizen und führt den wieder hervorgetretenen Gast direkt zur Suppe. Strapinski, von seinem Hunger übermannt, beginnt zu essen, und bekommt nach und nach die verschiedenen Gänge vorgesetzt. Was seine Scheu verursacht – dass er den Tischwein nicht anrührt und von dem guten Wein nur kleine Schlücke nimmt, dass er zum Zerteilen der Forelle die Gabel statt des blanken Messers nimmt –, interpretieren Wirt und Köchin als Zeichen seiner Vornehmheit. Strapinski sagt sich während der Mahlzeit, er wäre dumm, nun, da er die Schande ohnehin ertragen müsste, sich nicht auch satt zu essen.

Indes hat der Kutscher in der unteren, für das gemeine Volk bestimmten Stube seine Mahlzeit genommen und wird, bevor er aufbricht, von den Leuten nach der Identität des neuen Gastes gefragt. Als er hört, dass der Schneider von sich aus noch nichts über sich gesagt hat, behauptet er, das sei der Graf Strapinski, der befohlen habe, dass er, der Kutscher, mit dem Wagen vorausfahre, und der vielleicht noch einige Tage in dem Gasthof wohnen werde. Vielleicht aus Zufall, vielleicht, weil er den Namen in dem in der Kutsche gelassenen Wanderbuch des Schneiders gelesen hat, trifft er den richtigen Namen. Er fährt ab, ohne für sich und die Pferde zu bezahlen, sodass alles Strapinski in Rechnung gestellt wird. Der Kutscher ist nämlich ungehalten darüber, dass Strapinski sich nicht für die Mitfahrt im Reisewagen bedankt, sondern gleich den Herrn gespielt hat.

Dass der Wirt ihn als Graf Strapinski anspricht, setzt den Schneider wieder in Erstaunen, sodass er den Champagner, der die Mahlzeit abschließen soll, nicht abzulehnen weiß.

Inzwischen trifft die gehobenere Gesellschaft des Orts zum üblichen Spiel und Kaffee ein, das heißt die daheimgebliebenen Söhne der guten Häuser. Darunter ist auch Melcher Böhni, der Buchhalter einer großen Spinnerei. Sie nähern sich Strapinski langsam und setzen sich schließlich an seinen Tisch, ihn mit Zigarren und Zigaretten bewirtend. Das Wetter bessert sich, und man beschließt eine Fahrt zum Gut des Amtsrats, der gerade seinen Wein gekeltert hat und mit Rotem Sauser dienen kann. Auch der Wirt fährt mit, und Strapinski wird eingeladen.

Analyse

Mit der Ankunft in der »Waage« ändern sich schlagartig die erzählerischen Parameter. War der Auftakt der Novelle durch eine große Effizienz und Kompaktheit des Gesagten gekennzeichnet, wird auf einmal eine Bereitschaft zum Überfluss und zur Fülle spürbar. Sogar den Fokus auf den Helden scheint der Erzähler zu verlieren, wenn er die umständlichen und doch eiligen Verhandlungen zwischen Wirt und Köchin – von denen der Gast nichts mitbekommt – mit allen kulinarischen Details wiedergibt.

Die Veränderung lässt sich mit einer apologetischen (verteidigenden, rechtfertigenden) Funktion erklären, die der Text auf diesen Seiten erhält. Darzustellen ist ja der Übergang des noch unbescholtenen, armen Schneiders zum Hochstapler – oder, mit den Worten des Erzählers, sein Hintreten auf den »abschüssigen Weg des Bösen« (290).

Die Diskussion um Schuld und Verantwortung läuft dabei auf drei Ebenen.

Erstens macht der Erzähler an zwei Stellen ausdrücklich auf solche Verhaltensweisen Strapinskis aufmerksam, die das falsche Bild, das die Goldacher von ihm gleich zu Beginn gewonnen haben, aktiv bestätigen (vgl. 290, 291). Der Erzähler unterscheidet dieses Fehlverhalten etwas spitzfindig von dem bloßen Unterlassen einer Aufklärung über seine wahre Identität.

Zweitens gibt es die Beschreibungen der Hergänge in dem Wirtshaus, die Strapinski das Aufdecken des Irrtums über ihn erschweren müssen, und die Beschreibungen von Strapinskis Haltung und Gedanken selbst.

Drittens agiert der Text das, was Strapinski widerfahren ist, in gewisser Weise am Leser aus. Der Schneider gerät in einen ihn überfordernden Ereignisstrudel, in eine Aktivität, die ihn zwar zum Mittelpunkt nimmt, die aber vollkommen selbsttätig und mit großer Vehemenz ihre eigenen Kräfte entfaltet. Der überraschende Fokuswechsel und die vielen Reden von Pasteten und Rebhühnern setzen Strapinski auch in der Aufmerksamkeit des Lesers in die merkwürdige, zugleich abseitige und zentrale Position, aus der heraus ihm das um ihn her in Gang gesetzte Treiben mutwillig zu unterbrechen so schwer fällt.

Die erste Ebene ist die metaleptische Ebene (der Erzähler kommentiert eigenständig das Geschehen), die zweite Ebene betrifft Sachverhalte in der dargestellten Welt (Diegesis), die dritte Ebene betrifft Besonderheiten im Verhältnis von dargestellter Welt und Text.

Gerade die ausdrückliche Benennung der »selbsttätige[n] Lüge[n]« (290) des Helden setzt die insgesamt eher verteidigende Haltung des Textes ins Relief. Denn was ist dieser erste Fehltritt? Strapinski hat selbsttätig, hat tatsächlich in der Zeit, in der er auf das Essen warten sollte (und der Wirt ihn einmal in Ruhe ließ), Mantel und Mütze angezogen und sich auf den Weg nach draußen gemacht; weil er sich nicht auskannte (er ist ja »willenlos« (288) und ohne rechte Besinnung die Treppe zum Speisezimmer hinaufgeleitet worden), hat er den rechten Weg nicht sogleich gefunden, und ein Kellner, der meinte, er suche die Toilette, hat ihn zu derselben hingeführt. Erst dort konnte Strapinski das Missverständnis erkennen, denn der Kellner hatte taktvoll eine Erwähnung des vermuteten Wunsches des Gastes unterlassen (er sagt nur: »Erlauben Sie gefälligst, mein Herr, ich werde Ihnen den Weg weisen!« (290)). Dass der Schneider die ihm gewiesene Tür benutzt, und dass er »in dem verschlossenen Raum ein wenig verweilt[ ]« (290), lässt sich leicht mit dem Wunsch erklären, dem Kellner eine Beschämung zu ersparen. Bei dieser Beschämung handelt es sich um eine besondere Art der Scham, nämlich die Scham, die jemand empfindet, weil er jemand anderen unwissentlich beschämt hat. Strapinski hätte die gutwillige Täuschung des Kellners ohne weiteres aufrechterhalten und nach dem vorgetäuschten Toilettengang den Wirt über seine Identität aufklären können, ohne dass noch irgendjemand in dem Verweilen auf der Toilette den möglichen Beginn moralischen Verfalls gesehen hätte.

Die Konsequenz, mit der das Verhalten Strapinskis fehlgedeutet wird, und die Art von Wissensvorsprung, die der Leser den Goldachern gegenüber darin behält, dass er beides nachvollziehen kann – die echten und die falschen, nur angenommenen Ursachen –, sind natürlich ein komisches Element. Dabei fällt die Sorgfalt auf, mit der Einzelheiten behandelt werden. Der Wirt fragt deswegen nicht, warum sein Gast das Gasthaus verlassen wolle (worauf der angezogene Mantel, die wieder angezogene Mütze deuten müssten), weil er meint, er habe gefroren und sich deshalb zum Toilettengang so gewappnet: Er lässt gesondert einheizen. Die Scheu und Zurückhaltung, die Strapinski den aufgetischten Speisen und Getränken und dem guten Besteck entgegenbringt, weil er nichts von den Sachen bezahlen kann, werden als höfliche Scheu davor missgedeutet, den beflissenen Wirt mit dem eigenen, hohen Standard zu konfrontieren.

Die Hindernisse, die sich Strapinski in den Weg stellen, haben eine handfeste, räumliche Dimension. So gleich zu Beginn, als es noch am leichtesten gewesen wäre, der Situation zu entfliehen:

    Der Raum zwischen dem Reisewagen und der Pforte des Gasthauses war schmal und im Übrigen der Weg durch die Zuschauer ziemlich gesperrt. Mochte es nun der Mangel an Geistesgegenwart oder an Mut sein, den Haufen zu durchbrechen und einfach seines Weges zu gehen, – er tat dies nicht, sondern ließ sich willenlos in das Haus und die Treppe hinangeleiten und bemerkte seine neue seltsame Lage erst recht, als er sich in einen wohnlichen Speisesaal versetzt sah und ihm sein ehrwürdiger Mantel dienstfertig abgenommen wurde. (288)

Diese besondere Art des Eintritts in das Gasthaus verhindert dann, wie schon gesagt, dass Strapinski sich im rechten Moment schnell genug orientieren kann. Und die gute Gesellschaft, die sich am Nachmittag einfindet, zieht immer engere Kreise um den Tisch, an dem Strapinski sitzt (vgl. 294): Wie könnte er ihnen entkommen?

Schließlich treiben diejenigen, die den Schneider für einen Grafen halten, egoistische Motive an. Der Wirt sieht in seiner vortrefflichen Bewirtung eine besondere Werbeaktion für seinen Gasthof. Seine Berechnung geht nicht dahin, später eine besonders hohe Rechnung von dem adligen Gast zu fordern (für solche Wirte, die ihr Angebot und ihre Preise der Zahlungsfähigkeit ihrer Gäste großzügig anpassen, gibt es genügend Beispiele in der Literatur), sondern er ist sogar zu investieren, das heißt mit der Bewirtung Verluste zu machen bereit (vgl. 289). Nicht mit dem Grafen will er sein Geld machen, sondern mit dem Schein von Vornehmheit, den der Graf als sein Gast auf seinen Gasthof werfen wird. Auch hier greift also eine ähnliche Logik wie bei Strapinski und seinem Mantel. Nicht Kleider machen Leute, müsste es hier heißen, sondern – Gäste machen Wirte.

Die vornehme Gesellschaft, die sich zu Strapinski setzt, ist auf ihre Weise empfänglich für die Täuschung über seinen gesellschaftlichen Stand. »Denn es waren diejenigen Mitglieder guter Häuser, welche ihr Leben lang zu Hause blieben, deren Verwandte und Genossen aber in aller Welt saßen, weswegen sie selbst die Welt sattsam zu kennen glaubten.« Keine echten Erfahrungen haben sie also von so etwas wie einem polnischen Grafen, die sie mit der Erscheinung Strapinskis abgleichen können. Sondern ohnehin sind sie gezwungen, ihre Begriffe von der Welt an den Personen und Berichten zu bilden, die ihren Weg nach Goldach finden.

Veröffentlicht am 24. Januar 2024. Zuletzt aktualisiert am 24. Januar 2024.