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Kleider machen Leute

[Die Aussprache] S. 318-327

Zusammenfassung

Nettchen hat, ohne es zu bemerken, Strapinskis Handschuhe und Mütze mitgenommen und fährt auf der Straße nach Seldwyla ohne klaren Vorsatz; sie wolle noch zwei Worte mit ihm sprechen, sagt sie laut vor sich hin. Sie entdeckt Strapinski am Wegrand, erkennt ihn und nach einigen Mühen gelingt es ihr, ihn ins Bewusstsein zu holen. Er fällt vor ihr nieder und bittet um Verzeihung, sie aber lädt ihn ein, in den Schlitten zu steigen, sie wolle mit ihm reden.

Sie fährt zu einem Bauernhof, wo sie Patin des Kindes und ihr Vater Zinsherr der Bäuerin ist. Diese weiß noch nichts von Strapinskis Enttarnung, und Nettchen lässt die Täuschung für den Moment bestehen. Die Bäuerin, auf ihren eigenen Vorteil bedacht, bewirtet das frische Paar zuvorkommend und Nettchen bittet sie, sie zwecks einer Aussprache – sie hätten sich etwas gezankt – für eine Weile alleinzulassen.

Während Strapinski nur sagt, er sei ein armer Narr und er wolle bald sterben und ihr so Genugtuung geben, erkundigt sich Nettchen genauer nach seiner Geschichte, die er vollständig erzählen muss. Das Komische daran geht nicht ganz an ihr vorbei. Sie fragt ihn, ob er vor dem Eintreffen in Goldach schon einmal fremde Menschen angelogen habe. Das habe er nicht, meint Wenzel, und berichtet davon, wie er, seiner Mutter zuliebe, die bei ihm den Hang zur schönen Kleidung geweckt habe, die Möglichkeit ausgeschlagen habe, bei einer Gutsherrin in Dienst zu gehen und sich bilden zu lassen. Er sei also bei dem Dorfschneider in die Lehre gegangen, dann zum Militär. Nach dem Tod der Mutter sei er als Schneider in die Welt gezogen. Nettchen erkundigt sich nun nach etwaigen Frauengeschichten und Wenzel berichtet allein von der kindlichen Anhänglichkeit der Tochter der erwähnten Gutsherrin, die sehr darauf gedrungen hatte, dass Wenzel die Stelle bei ihrer Mutter annehme. Den trotzigen, leidenschaftlichen Ausdruck des Kindes erkennt Wenzel nun bei Nettchen, sie tritt zu ihm, fällt ihm um den Hals und sie verloben sich jetzt zum zweiten Mal.

Analyse

Der Enttarnung Strapinskis durch die Maskeraden der Seldwyler wohnte eine ästhetische Evidenz inne, die leicht alles weitere Nachfragen verhindert haben könnte; zumal Böhni durch die in raschen Umlauf gebrachten Informationen gewissermaßen das Begleitheft zu der Aufführung beigesteuert hatte. Das Paar hatte, zentral positioniert, die Vorführung über sich ergehen lassen müssen, und war, allseits beobachtet, zu keiner Interaktion in der Lage gewesen. Der erste, nach langem Stillschweigen wieder hergestellte Kontakt brachte gleich die Trennung. Böhni rechnet nicht ohne Grund damit, dass Nettchen nach der erlittenen Beschämung nur noch nach Hause fahren will.

Aber auch erzählerisch wird die Versuchung groß erscheinen, die Sache mit dem Aufzug der Seldwyler für beendet und abgemacht zu halten. Auch der Erzähler hat schließlich viel in die Wirkung der allegorischen Maskerade investiert. Heinrich von Kleist hat in seinem »Zerbrochnen Krug« die erste Fassung der letzten Szene drastisch kürzen müssen, weil die Zuschauer die Aussprachen unerträglich lang fanden, die stattfinden, nachdem der Hauptpunkt, die Schuld des Dorfrichters Adams, bereits geklärt, und damit die allgemeine Spannung abgefallen ist.

In »Kleider machen Leute« ist nach der Auflösung der Verlobungsfeier die entscheidende Frage nach dem Glück oder Unglück Wenzels aber noch nicht geklärt. Die Entschiedenheit, mit der er sein Schicksal annimmt, mit der er die gesellschaftliche Verächtlichwerdung und das Herausfallen aus seiner falschen Rolle mit dem eigenen Tod zu quittieren und Nettchen dadurch Genugtuung zu verschaffen bereit ist – diese Entschiedenheit, anstatt das über ihn getroffene Urteil zu bestätigen, wandelt sich dank der Regsamkeit Nettchens zur Voraussetzung für den zweiten, diesmal ins Positive gehenden Glückswechsel.

Die Seldwyler wie auch die Goldacher hätten den entlarvten Betrüger sich selbst überlassen: Ihnen wäre er im Schnee erfroren. So weit der Erzähler die genauen Motive Nettchens, in Richtung Seldwyla zu fahren, auch im Vagen und Ungefähren belässt (vgl. 318), klar ist doch: Sie sieht sich zu einer umständlicheren Aussprache berechtigt. Sobald sie Wenzel gefunden hat, schafft sie dafür klug die Voraussetzungen, indem nun sie die Täuschung über seinen Stand bei der Bäuerin für den Moment unangetastet lässt.

Die Erklärungen, die sie Wenzel entlockt, übertreffen dann im Umfang und an psychologischer Schärfe bei weitem das, was der Erzähler bisher an biographischen Informationen aufgeboten hatte. Hier wird mit der märchenhaften Verfasstheit der Novelle endgültig gebrochen. Strapinski erklärt, wie sein Hang zu vornehmer Kleidung und vornehmem Betragen entstanden ist und er beweist zugleich, dass dieser Hang für ihn kein Absolutum darstellt, dass er schon einmal bereit war, das eitle Bedürfnis der Liebe zu seiner Mutter zu opfern (und nicht nur das eitle Bedürfnis). Die Eingezogenheit und Schüchternheit, mit der er seinen Militärdienst bei den Husaren ableistete, spricht dafür, dass das Vergnügen an der schönen Kleidung wirklich ein stilles, zurückgezogenes Vergnügen ist und nicht mit dem Hang zum Großtun, mit einem draufgängerischen, Eindruck schindenden Wesen zusammenhängt. Ein ähnlicher Ausschluss betrifft den erotischen Bereich. Dass er sich zu der unschuldigen Kinderliebe, die er selbst als Kind nicht durchschaut hatte, bekennt – gerade das muss ihn entlasten. Der Sinn für das Komische seiner Goldacher Abenteuer, der Nettchen bei aller Ernsthaftigkeit nicht abging, wird es ihr leichter gemacht haben, die unwahrscheinliche Episode gegen Wenzels übrigen Lebenslauf und Charakter zu halten und in dieser Gegenüberstellung geringzuachten. Gleichwohl ist ihr erneuertes Bekenntnis zu ihm ein mutiger Schritt, gerade weil sie nicht, wie Wenzel, romantisch, sondern realistisch veranlagt ist und die abermalige Verlobung nicht mit der vagen Vorstellung verbindet, in der Ferne die Existenz allein auf die Liebe zu stellen.

Ihr Pragmatismus und ihre Weltklugheit treten von jetzt an so deutlich zutage, dass leicht in Vergessenheit gerät, dass sie als romantisch veranlagte Person vorgestellt worden war, und dass Wenzel ihre Neigung dieser Veranlagung verdankt (vgl. vor allem die Rede ihres Vaters, 309). Anders als für Wenzel, den der neuerliche Glückswechsel nur in eine neue Schwärmerei versetzt (»Er wünschte vielmehr, in unbekannte Weiten zu ziehen und geheimnisvoll romantisch dort zu leben in stillem Glücke, wie er sagte« (327)), geht für Nettchen die Aufklärung über Strapinskis wahre Identität mit der Überwindung jeden Schwärmertums einher. Sie ›entwickelt sich‹, wie man so sagt, das heißt, ihre Persönlichkeit macht eher einen Sprung: Mit einem Mal tut sie die provinziellen, kindlich-jugendlichen Ideale ab und wird zur selbstbewussten, selbstbestimmten Frau. »›Keine Romane mehr! […]‹« (327)

Veröffentlicht am 24. Januar 2024. Zuletzt aktualisiert am 24. Januar 2024.