Skip to main content

Kleider machen Leute

[Leben in Goldach] S. 302-307

Zusammenfassung

Als Strapinski am nächsten Morgen erwacht, findet er in seinem Zimmer eine komplette, für einen Grafen gedachte Ausstattung an Kleidung, Reitsachen, ja Musikinstrumenten vor, die ihm die gestrige Gesellschaft in der Frühe hat zusenden lassen. Als er sich mittels des in seiner Tasche immer noch vorfindlichen Fingerhuts von der Wirklichkeit des Geschehenen überzeugt hat, geht er, von den Bediensteten des Wirtshaus höflich gegrüßt, nach draußen, um sich die Stadt anzusehen.

Er betrachtet die Stadt in seiner neuen Rolle als Graf, und da macht sie einen großen Eindruck auf ihn. Vor allem liest er die Inschriften an den Häusern, die aus dem Mittelalter, aus der Zeit der Aufklärung und aus der neueren Zeit stammen. Er glaubt, sie bezeichneten zuverlässig, was sich in den Häusern abspiele, und gerät vor das Tor und das freie Feld. Er wägt zwischen dem genuss- und risikoreichen Leben in Goldach und dem armen, aber redlichen Leben draußen ab und will gerade ins Feld gehen, als Nettchen in einem leichten Fuhrwerk an ihm vorbei, ihn grüßend, in die Stadt fährt. Diese Erscheinung wirft seine Entscheidung um, und er kehrt zurück nach Goldach.

Er besorgt sich noch am selben Tag das beste Pferd der Stadt und beginnt seine falsche Identität aktiv mitzugestalten, indem er herauszufinden sucht, was über ihn gesagt wird, dieses bestätigt, jenes hinzufügt, hier für Unterhaltung sorgt und bei den Frauen für Bewunderung, und dennoch die Hauptsachen im Dunkeln belässt. Dabei plagt ihn die Angst davor, als armer Schneider erkannt und entsprechend beschämt zu werden. Sein Vorsatz wird es, durch Lotteriespiel an Geld zu kommen und den Goldachern aus der Ferne seine Schulden zu erstatten. Er hätte gerne weiter in Goldach als Schneider gelebt, doch freilich kommt das nicht in Frage. Wegen Nettchen gibt es schon Gerüchte.

Analyse

Der szenische Erzählmodus wird sogar über den ersten Tag hinaus ein Stück weit beibehalten. Wieder wird Strapinski reich beschenkt, doch diesmal in Abwesenheit der Schenkenden, die »die Vormittagsstunden unabänderlich in ihren Geschäften verbrachten« (302). Der Held ist damit zum ersten Mal mit seiner neuen Situation allein. Während sonst die Gegenwart der anderen die Tatsächlichkeit der wunderlichen Verwechslung bewiesen hatte, sucht Strapinski jetzt seinen Fingerhut in der Tasche, um sich ihrer zu vergewissern.

Der Spaziergang durch die Stadt hat eine dreifache Funktion. Erstens wiederholt sich in ihm das einsame Herumwandeln Strapinskis vom Vorabend, auf dem Gut des Amtsrats. Der Held entfernt sich nach und nach aus dem Zentrum des sozialen Geschehens und findet einen Weg, der ihn von dem aktuellen Aufenthaltsort weg und aus seiner ganzen verhedderten Lage führen kann. Das ist, hier wie dort, »das freie Feld« (304). Hier wie dort entschließt Strapinski sich, den ehrlichen, wiewohl armen Wandel dem geheimnisvollen, so lust- wie gefahrreichen Leben als Hochstapler vorzuziehen, und hier wie dort wird ihm der Weg buchstäblich von dem zufällig erscheinenden Nettchen versperrt. Dass sie diesmal allein unterwegs ist, und dass es nur ihre Erscheinung ist, die ihn zur Umkehr bewegt, und nicht auch eine verbindliche Einladung von Seiten ihres Vaters, passt zu der größeren Unbefangenheit, die der Schneider auf seinem Spaziergang genießt. Der Zwang ist nur noch der Zwang der zarten Liebesversprechung, nicht auch der soziale Zwang.

Zweitens hat der Spaziergang wiederum eine psychologische Dimension. Obwohl Strapinski allein ist, obwohl er sich mittels des Fingerhuts seiner eigentlichen Identität versichert hat, verändert die angenommene Grafenrolle seine Wahrnehmung. Die Wahrnehmungsfähigkeit wird dabei zugleich gesteigert und ihres üblichen Fokus, der Suche nach Arbeit, beraubt. Sein Blick kann herumschweifen und sich von augenblicklichen Reizen lenken lassen: Er findet die Inschriften reizend, die er so noch nicht gesehen hat, die er alle liest und insofern missdeutet, als er sie für zuverlässige Anzeichen für »die besonderen Geheimnisse und Lebensweisen jedes Hauses« (304) nimmt. Damit begeht er einen ähnlichen Fehler wie die Goldacher ihm gegenüber. Er findet sich in einem ganzen Zeichengeflecht, das seine Einbildungskraft anregt und ihn fantasieren lässt, der Name des Gasthofs Zur Waage könne ihm verbürgen, dass es mit seiner Verwechslung schon seine Richtigkeit habe, denn dort werde »das ungleiche Schicksal abgewogen und ausgeglichen und zuweilen ein reisender Schneider zum Grafen gemacht« (304). Wenn er vor das Tor tritt, verlassen ihn all diese Einbildungen aber, und er wird sich der Wahl, vor die er gestellt ist, wieder bewusst.

Drittens findet Keller auf dem Spaziergang Gelegenheit zu einem Porträt Goldachs und seiner bürgerlichen Einwohnerschaft. Die in überraschender Fülle zitierten Inschriften deuten in die Geschichte zurück, die in Mittelalter, Aufklärung und neue Zeit dreigeteilt wird. Anders als Strapinski weiß der Erzähler um die möglichen Missverhältnisse zwischen den Aufschriften und dem tatsächlichen Leben innerhalb der Häuser. Indem er solches andeutet (in den Beschreibungen, die in Klammern gesetzt sind), führt er die komische Linie fort, die auch die Begebenheiten um den Schneider immer umspielt hat.

Das Porträt Goldachs insgesamt ist zu dem Porträt Seldwylas in Beziehung zu setzen, das vor allem in den den ersten und zweiten Teil des Novellenzyklus einleitenden Passagen gezeichnet wird (vgl. 11-14, 283-285): Seldwyla wird im ersten Teil als seltsam und lustig charakterisiert (vgl. 14), im zweiten Teil aber wird dem Ort eine Veränderung attestiert, die vor allem in kapitalistischen Betätigungen – die überall verbreitete Spekulationsbetätigung in bekannten und unbekannten Werten (283) – ihren Ursprung hat: »sie sehen, wie gesagt, schon aus wie andere Leute; es ereignet sich nichts mehr unter ihnen, was der beschaulichen Aufzeichnung würdig wäre« (285) – sie drohen, könnte man sagen, zu Goldachern zu werden.

Mit der Umkehr in die Stadt wird der szenische Erzählmodus endlich verlassen. Strapinski hat vorerst in Goldach zu bleiben beschlossen, und die weiteren Entwicklungen können im raffenden Erzählmodus wiedergegeben werden. Trotz dieser Veränderung bleibt der Text seinem Muster treu. Wieder wird erzählt, wie Strapinski in seine Rolle weiter hineingerät, und wieder wird er bis vor einen Ausweg geführt.

Das Kartenspiel mit Geldeinsatz ersetzt Strapinski einfach durch das Lotteriespiel. Auch hierbei kommt es nun darauf an, die Summe zusammenzubekommen, mit der er seine Schulden bezahlen und also ohne große Beschämung davonkommen kann. Die Furcht vor dieser Beschämung wird vom Erzähler ausdrücklich von dem schlechten Gewissen wegen der erschlichenen Geschenke und Zuschüsse geschieden.

Der Fortschritt, den die Liebeshandlung macht, wird nur anhand der verbreiteten Gerüchte angezeigt.

Diese raffenden Passagen, so kurz sie sind, sind doch gleichsam die Mittelachse, um die die ganze Novelle rotiert. Alles davor ist vom Erzählanfang her determiniert, alles danach bereits vom Erzählausgang. Auf dieser und auf jener Seite dominiert dann wieder der szenische Erzählmodus.

Veröffentlicht am 24. Januar 2024. Zuletzt aktualisiert am 24. Januar 2024.