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Kleider machen Leute

Sprache und Stil

Nicht stilistische Homogenität und Konsequenz, sondern ein eigenartiger Stilpluralismus und -opportunismus kennzeichnen die Erzählweise Kellers in »Kleider machen Leute«.

Das betrifft schon die erzählerischen Grundeinstellungen. Pointiert bringt der Erzähler seinen Wissensvorsprung zum Ausdruck, wenn er das von Strapinski gesungene polnische Volkslied, das keiner der Anwesenden versteht, für den Leser übersetzt. Er ist in der Lage, zwischen Figuren zu ›springen‹, sich etwa von seiner Hauptfigur zu lösen, um die Gespräche von Wirt und Köchin wiederzugeben.

Diese punktuellen Überschreitungen des Wenzel zugänglichen Weltausschnittes ändern freilich nichts daran, dass der Leser im Großen und Ganzen mit ihm im Gleichschritt die Goldacher Verhältnisse kennenlernt, dass er von Nettchens Dasein nicht erfährt, bis sie vor seinem Auge unerwartet auftaucht (aber er erfährt doch, dass sie sich sonst beim Klatsch nicht zurückgehalten hat) und anderes mehr.

So pointiert Böhnis Entdeckung in der Gesellschaft des Amtsrats dem Leser wissend gemacht wird, wenn Wenzel davon noch nichts ahnen kann (vgl. 298) – so wirksam ›deckt‹ sich der Erzähler hinter die Unwissenheit Wenzels, wenn er die umständlichen Vorbereitungen Böhnis und der Seldwyler zur Enttarnung des Schneiders verschweigt und unschuldig nichts sagt als: 

    Um diese Zeit geschah es, daß Herr Melchior Böhni in der letzteren Stadt [d.i. Seldwyla] Geschäfte zu besorgen hatte und daher einige Tage vor dem Winterfest in einem leichten Schlitten dahin fuhr, seine beste Zigarre rauchend; und es geschah ferner, daß die Seldwyler auf den gleichen Tag, wie die Goldacher, auch eine Schlittenfahrt verabredeten, nach dem gleichen Orte, und zwar eine kostümierte oder Maskenfahrt. (309 f.)

Das »und«, das die beiden Hauptsätze verbindet, ist in Wirklichkeit ein emphatisches Und, eine sprechende Untertreibung.

Die Motivation für dieses Verschweigen liegt freilich in dem Überraschungsmoment, das auch dem Leser bei der Maskerade nicht entgehen soll – an anderer Stelle erscheint die Einschränkung des erzählerischen Zugriffs auf die Diegese aber gänzlich unmotiviert. Der Reisewagen, der Wenzel am Anfang überholt, wird einem fremden Grafen zugeführt, »der irgendwo in der Ostschweiz auf einem gemieteten oder angekauften alten Schlosse saß.« (287) Dass der Erzähler sich wegen des Besitzverhältnisses des fremden Grafen und seines Schlosses nicht festlegt, kann mit keiner flüchtigen personalen Fokalisierung erklärt werden, denn der Kutscher wird um die genaue Art des Besitzverhältnisses wissen, Strapinski aber entweder gar nicht oder dann doch präzise in Kenntnis gesetzt worden sein. Die Stelle suggeriert, der Erzähler berufe sich auf ungenannte Informationsquellen (vielleicht das inzwischen nachlassende Gedächtnis Strapinskis?); und die Unterscheidung sicheren und unsicheren Wissens suggeriert Verlässlichkeit bei der Wiedergabe der gesammelten Informationen. Es handelt sich, wenn man so will, um einen Trick zur Erzeugung eines Realismus-Effekts – der aber wiederum nur punktuell angewandt wird.

Das vieldeutig Schillernde von Kellers Stil lässt sich noch an einem anderen Beispiel illustrieren. An mehreren Punkten vergleicht der Erzähler Elemente der Handlung mit ehrwürdigen literarischen Vorbildern. »Da stand er nun, gleich dem Jüngling am Scheidewege, auf einer wirklichen Kreuzstraße« (305), heißt es, als Wenzel auf seinem Stadtspaziergang die Stadtgrenze erreicht hat. Das Motiv von Herakles am Scheideweg, beruhend auf einer Stelle in Xenophons »Sokratischen Denkwürdigkeiten« (II, 1, 21 ff.), wurde vor allem in der bildenden Kunst umgesetzt. Der Weg der Tugend ist beschwerlich und lang, der Weg des Lasters einfach zu beschreiten. Herakles entscheidet sich für die Tugend, Wenzel für das Laster (und gelangt doch zum Heil). Bei dem näheren Abgleich fällt außerdem auf, dass Keller die Landstraße (den Weg der Tugend also) als besonders einladend beschreibt: »Die Sonne schien, die Straße war schön, fest, nicht zu trocken und auch nicht naß, zum Wandern wie gemacht.« (305)

Als die Seldwyler Nettchen mit Gewalt zu verteidigen sich bereitmachen, heißt es, »es gewann den Anschein, als ob Seldwyla ein neues Troja werden sollte.« (330) In diesen Vergleichen liegt ein unbestreitbar komisches Element, das aus der Diskrepanz des Novellenstoffes und der antiken Heldensage erwächst. Andererseits – könnte man sagen – ist die antike Mythologie weit entrückt und kann uns kaum im Ernst angehen. Die Geschichte Wenzels und Nettchens hingegen mag nicht das heroische Format der »Ilias« haben – aber sie ist uns nah, sie ist ›echt‹ (oder zumindest gibt sie sich Mühe, so zu wirken), und in ihr findet sich der Kern der antiken Motive am Ende doch wieder. Beides – diese Auffassung und die Komik – muss sich nicht widersprechen.

Veröffentlicht am 24. Januar 2024. Zuletzt aktualisiert am 24. Januar 2024.