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Die Marquise von O…

Historischer Hintergrund und Epoche

Es ist beinahe schon ein Gemeinplatz, dass Kleist zwischen Klassik und Romantik oszilliert, sich aber von keiner der beiden Richtungen jemals vereinnahmen lässt. Auffällig ist aber, dass Kleist, ebenso wie die Romantik, sich zu einem nicht unbedeutenden Teil auf die Aufklärung bezieht. Das hängt mit der sogenannten Kant-Krise Kleists zusammen, die insbesondere »seine Auseinandersetzung mit der Sphäre des Religiösen und Sakralen« prägte (Schmitz-Emans 229).

Schmitz-Emans bezeichnet die Jahre um 1800 als historische »Sattelzeit« (Schmitz-Emans 234). Durch die vielfältigen Umbrüche, die Napoleonischen Kriege und die beginnende Industrialisierung, präsentiert sich der historische Kontext als äußerst dynamisch. Wie viele seiner Kollegen, konstatierte auch Kleist eine Welt im Umbruch, auf die er schreibend reagierte. »Die Marquise von O…« ist ein Zeugnis dieses Umbruchs. In der Novelle trifft die bürgerliche Familie auf den adeligen Bräutigam. Damit ist ein zentrales Motiv des Bürgerlichen Trauerspiels in der Novelle zu finden.

Fraglos eine zentrale Rolle spielen die Kriege der Zeit. Kleist selbst war schon als Teenager Soldat und nahm am Ersten Koalitionskrieg gegen Frankreich teil (Breuer 1). »Die Marquise von O…« lässt sich daher auch als Novelle verstehen, die das Aufeinanderprallen von Zivilbevölkerung und Soldatenstand thematisiert und schildert.

Über die Entstehung der Novelle ist allerdings nur sehr wenig bekannt. Es ist gut möglich, dass »Die Marquise von O…« während Kleists französischer Gefangenschaft entstanden ist, sodass die Erfahrung des Eingesperrtseins ihren direkten Niederschlag in jenen vielfältigen Verpflichtungen, denen die Marquise unterworfen scheint, gefunden haben könnte.

Tatsächlich aber wurde das Thema der unwissentlichen Schwangerschaft nicht zuerst von Kleist bearbeitet. Der Autor des »Don Quijote« Cervantes veröffentlichte 1613 eine Novelle, in der eine ohnmächtige Frau vergewaltigt und geschwängert wird. Ob Kleist diese Novelle kannte, ist nicht bekannt, aber immerhin wahrscheinlich (Doering 107).

Ziemlich sicher ist aber, dass Kleist Montaignes »Essai über die Trunksucht« kannte. »Dort wird von einer gut beleumdeten verwitweten Bauersfrau berichtet, die die Herkunft ihrer Schwangerschaft nicht kennt und deshalb von der Kanzel der Kirche herab den Vaters ihres ungeborenen Kindes suchen lässt. Daraufhin erklärt einer ihrer Knechte, er habe sich ihr genähert, als sie nach ausgiebigem Weingenuss in tiefen Schlaf gefallen sei« (Doering 108). Interessant ist hier, dass das gesellschaftliche Verhältnis der beiden umgekehrt ist. Bei Montaigne ist die Vergewaltigte die gesellschaftlich höher stehende Person, während die Marquise als Bürgerstochter, die sie trotz der Ehe mit einem Marchese ja geblieben ist, unter dem Grafen von F… steht.

Veröffentlicht am 16. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 16. Mai 2023.