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Die Marquise von O…

Interpretation

Existenzialistisch begründeter Ansatz

Bis in die 1970er-Jahre war »Die Marquise von O…« ein eher wenig beachteter Text von Kleist (Ellis 22). Zuvor war die Novelle von einer Lektüretradition geprägt, die deutlich existenzialistische Züge hatte. Dabei »galt der Entschluss der Marquise, sich selbstbewusst zu ihrer Schwangerschaft zu bekennen, als Kernstück der Erzählung« (Doering 110). Die zentrale Textstelle für diese Deutung ist die folgende: »Durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht, hob sie sich plötzlich, wie an ihrer eigenen Hand, aus der ganzen Tiefe, in welche das Schicksal sie herabgestürzt hatte, empor« (137). In der Tat klingt diese Stelle voll und ganz nach einer existenzialistischen Erfahrung. Allerdings weist schon Doering darauf hin, dass eine solche exklusive Konzentration auf eine einzelne Textstelle kaum eine Interpretation der ganzen Novelle zu tragen vermag (Doering 110). Dennoch ist es nicht falsch, dass es in »Die Marquise von O…« auch um den emanzipativen Kampf einer Frau gegen das patriarchale Gesetz geht.

Es stimmt also, dass es um Selbstermächtigung geht, gleichzeitig endet die Geschichte nicht mit der Umsiedlung der Marquise. Im weiteren Verlauf der Geschichte kehrt sie in die vorgeschriebenen Bahnen zurück und erfüllt das, was von ihr erwartet wird. Von einer vollständigen Befreiung kann also die Rede nicht sein. Eine existenzialistische Lesart verkennt also die komplette zweite Hälfte der Novelle.

Religionskritik und Psychoanalyse

Einer religionskritisch motivierten Lektüre gelingt es allenfalls, Motive der Novelle zu erklären. Es ist absolut richtig, dass das Motiv der unbefleckten Empfängnis zitiert wird; auch die dreimalige Verleugnung, der biblische Fluch der Mutter und die Besprengung der Familie mit Weihwasser durch die Marquise weisen in diese Richtung. Der Fokus liegt allerdings nicht auf der Religion. In der ganzen Erzählung tritt keine geistliche Person auf, Dogmen und Glaubenssätze werden nicht verhandelt. Allerdings kann die Parodie der unbefleckten Empfängnis als Seitenhieb auf die katholische Dogmatik verstanden werden.

Überhaupt gilt: »In der Marquise von O… bedient sich Kleist stärker als in anderen Erzählungen des Stilmittels der Ironie« (Doering 111). Doering weist darauf hin, dass sich Erzählerkommentar und geschilderte Ereignisse oftmals widersprechen (Doering 111). »Die Marquise von O…« lässt sich also durchaus auch als satirischer Text verstehen.

Psychoanalytisch geprägte Lektüren zielen hingegen häufig auf die Frage ab, ob die Marquise wirklich nichts von der Vergewaltigung gewusst habe. Dazu berufen sie sich auf folgende Textstelle:  »Ich will nichts wissen, versetzte die Marquise« (141). Es liegt relativ nahe, dies als Ausruf des Ichs zu erkennen, das sein Unbewusstes – präziser: sein Verdrängtes – nicht wahrhaben will. Dies würde tatsächlich mit dem Kleist’schen Spiegelstrich korrespondieren. Auch er könnte als Zeichen verstanden werden, das anzeigt, dass die Erinnerung hier blockiert ist.

Psychoanalytisch fruchtbar ist außerdem die Figur des Vaters, also des Herren von G… Dieser wird im Krieg besiegt, von seinem Schwiegersohn in spe, der darüber hinaus von höherem Stand ist als er, geradezu bedrängt, und seine Pistole schießt vorzeitig in die Wand. Versöhnt und wieder in alte Rechte eingesetzt – immerhin hat er die Ehre, den Hochzeitskontrakt aufzusetzen und unterzeichnen zu lassen – wird er erst wieder durch die inzestuös gefärbte Versöhnung mit seiner Tochter. Pikant und voyeuristisch wird die Szene dadurch, dass die Mutter die beiden durch das Schlüsselloch beobachtet (151).

Adelskritik und gesellschaftlicher Umbruch

Sozialgeschichtlich orientierte Interpretationen könnten bei »Die Marquise von O…« zunächst von der grundsätzlichen Opposition zwischen der bürgerlichen Familie und dem adeligen Bräutigam in spe ausgehen und behaupten, in dieser Konstellation drücke sich ein typischer Klassenkonflikt aus. 1808 erschienen, fällt die Novelle exakt in das Sattelzeitalter, das den Beginn der Moderne bedeutet (Schmitz-Emans 234). Um 1800 hat sich die Industrialisierung in Ost-, bzw. Mitteldeutschland, also dem hauptsächlichen Wirkungsbereich Kleists, noch nicht vollständig durchgesetzt. Noch herrschen Adelige unbeschränkt. Ein marxistischer Slogan lautet: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen« (Marx 92). Das Bürgertum begehrt zwar partiell auf – hier dargestellt im Wunsch der Marquise, ihr Schicksal anzunehmen – noch aber hat der Adel die Oberhand.

Allerdings vermacht der Graf am Ende seiner Frau sein Vermögen. Eine vulgärmarxistische Deutung könnte dies als Anspielung darauf lesen, dass das Bürgertum, um sich als Subjekt der Geschichte zu behaupten, schlicht und ergreifend seine Frauen verkauft habe. Um den Adel zu überwinden habe es eben nicht genügt, die Produktionsmittel zu besitzen, der Übergang von einer adelsdominierten Gesellschaft hin zu einer, in der Bürgertum dominiert, sei kein automatischer gewesen. Tatsächlich zeigt sich im Fortgang der Industrialisierung über das 19. Jahrhundert hinweg, dass der Adel immer mehr Privilegien verliert. Die Novelle spielt am Anfang dieses Prozesses und stellt dementsprechend primär den Status der bürgerlichen Familie angesichts des Epochenumbruchs dar.

Veröffentlicht am 16. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 16. Mai 2023.