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Die Marquise von O…

Abschnitt 1 (113–117)

Zusammenfassung

Die Novelle beginnt mit der Wiedergabe einer Zeitungsnotiz, in der die Marquise von O… ankündigt, dass sie ohne eigenes Wissen schwanger geworden sei und nun über den Weg der Öffentlichkeit den Vater des Kindes ausfindig machen wolle. Die Marquise ist Witwe und bereits Mutter zweier Kinder. Nach dem Tod ihres Mannes ist die Marquise zurück in das Haus ihres Vaters im nördlichen Italien gezogen. Der Vater ist Kommandant einer Festung. (113)

In dieser Festung, die zur Stadt M… gehört, wird die Familie vom Krieg überrascht. In seiner Eigenschaft als Festungskommandant muss der Vater der Marquise, Herr von G…, alles daran setzen, seine Stellung zu halten, als die russischen Soldaten ankommen. Aufgrund ihrer Übermacht gelingt es den Russen, die Festung zu nehmen. Dabei gerät die Marquise von O… in die Hand einiger Schützen, die sie, wie es den Anschein hat, vergewaltigen wollen. Daran hindert sie aber ihr dazu kommender Vorgesetzter, der Graf von F…, der die erregten Soldaten auf das Heftigste maßregelt. Er bringt die Marquise in ein abseits gelegenes Zimmer. Was dort genau passiert, bleibt vorerst unklar. Sicher ist jedoch, dass die Marquise in Ohnmacht fällt. (115)

Die Russen erobern die Festung und der Vater der Marquise ergibt sich dem Grafen von F… und sieht sich nach seiner Familie um. Der Graf von F… macht sich daran, die Festung vollständig einzunehmen, ausbrechende Feuer zu löschen und wichtige Befehle zu erteilen. Unterdessen ist die Marquise aus ihrer Ohnmacht erwacht und weiß bereits um die Identität ihres Retters. So trägt sie ihrem Vater auf, dem Grafen von F… ihren Dank auszurichten und ihn darum zu bitten, vor seiner Abreise noch einmal bei der Marquise vorstellig zu werden (116).

Am nächsten Morgen kommt der Befehlshaber der russischen Truppen, ein General, bei der Festung an. Als er von der versuchten Vergewaltigung der Marquise hört, fordert er den Grafen F… auf, die Namen der verhinderten Vergewaltiger zu nennen, damit diese bestraft werden können. Der Graf behauptet aber, sich nicht besinnen zu können, es sei zu dunkel gewesen. Weil der Graf aber einen der Soldaten so stark geschlagen hat, dass eine Wunde zu sehen ist, kann der General diesen Soldaten identifizieren, der nach kurzer Zeit bereits die Namen seiner Mittäter verrät. Alle werden standrechtlich erschossen. Direkt im Anschluss verlassen die Russen, einschließlich des Grafen von F…, das Fort wieder und Ruhe kehrt ein (117).

Analyse

Bei einer Analyse von »Die Marquise von O…« fällt von Anfang an auf, wie dicht erzählt wird. Schon der erste Satz ist dabei charakteristisch: »In M…, einer bedeutenden Stadt im oberen Italien, ließ die verwitwete Marquise von O…, eine Dame von vortrefflichem Ruf, und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern, durch die Zeitungen bekanntmachen: daß sie, ohne ihr Wissen, in andre Umstände gekommen sei, daß der Vater zu dem Kinde, das sie gebären würde, sich melden solle; und daß sie, aus Familienrücksichten, entschlossen wäre, ihn zu heiraten« (113).

Zunächst sei hier auf die schiere Länge des ersten Satzes hingewiesen. Der Satz besteht aus 62 Wörtern und erinnert damit nicht ganz zufällig an die berühmt-berüchtigte Diktion Immanuel Kants. Die ausufernde Genauigkeit Kants im Ausdruck übernimmt Kleist, wenngleich seine musikalische Prosa unvergleichlich eingängiger ist als die eher spröde Terminologie Kants. Als junger Student hat Kleist seine sogenannte »Kant-Krise« durchgemacht. In den Texten Kants hat er die Wahrheit entdeckt, dass es eine absolute Wahrheit nicht geben könne (Ellis 155).

Dennoch zeigt bereits der erste Satz, dass man es bei »Die Marquise von O…« mit einem Textkunstwerk zu tun hat, das durch seinen intensiven Einsatz von Appositionen, Relativsätzen, Ellipsen, aber auch indirekter Rede und nicht zuletzt durch den Einsatz poetisch nutzbarer Interpunktionszeichen, zu charakterisieren ist. Gleichwohl sollte dabei der Inhalt nicht ignoriert werden, denn auch hier erweist sich »Die Marquise von O…« als echter Sonderfall.

Der erste Abschnitt stellt über weite Strecken die kriegerischen Handlungen dar, die sich in der Festung abspielen. Falls Kleist sich in »Die Marquise von O…« auf einen konkreten, historischen Krieg bezieht, so handelt es sich höchstwahrscheinlich um den sogenannten Zweiten Koalitionskrieg zwischen 1798 und 1802 (Doering 107). Allerdings hat der nicht in die Buchausgabe übernommene Hinweis, die Handlung sei »aus dem Norden nach dem Süden verlegt worden« (Goldammer 649), wie auch ferner Kleists Praxis, wichtige Namen zu zensieren, deutlich gemacht, dass es Kleist in »Die Marquise von O…« weniger um ein konkretes Geschehen geht, sondern vielmehr um ein Ereignis, das prinzipiell jeden treffen könnte.

Von symbolischer Bedeutung ist natürlich auch die Eroberung der Festung des Vaters, die mit der Eroberung der schlafenden Marquise in Form einer Vergewaltigung einhergeht. Der Graf ist in dieser Hinsicht also vollständig als Mann konzeptualisiert. Doch auch dieser Befund erweist sich angesichts des Kleist’schen Textes als mindestens ambivalent. Berühmt an »Die Marquise von O…« ist vor allem der Spiegelstrich, der – womöglich – die Vergewaltigung vertritt: »Hier – traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen, Anstalten, einen Arzt zu rufen; versicherte, indem er sich den Hut aufsetzte, daß sie sich bald erholen würde; und kehrte in den Kampf zurück« (115). Was sich nun genau abgespielt hat, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen. Vielleicht, dass es sich ja doch um eine unbefleckte Empfängnis handelt oder die Marquise, wie es in dem bekannten Epigramm von Kleist heißt, sich die Augen nur zuhielt? (305) Der Text gibt zwar starke Signale, dass es sich um eine Vergewaltigung gehandelt hat, letzte Sicherheit gibt es allerdings nicht. Genau das macht aber den Reiz und vor allem die Modernität des Textes aus. Eindeutigkeit vermeidet die Novelle.

Veröffentlicht am 16. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 16. Mai 2023.