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Die Marquise von O…

Gattung/Textsorte
Erscheinungsjahr
1808
Originalsprache
Deutsch

Über das Werk

Heinrich von Kleists Novelle »Die Marquise von O…« erschien 1808 in der Zeitschrift »Phöbus«, die Kleist zusammen mit Adam Müller herausgab (Lehmann 7). Über ihre genaue Entstehungsgeschichte ist kaum etwas bekannt. Es ist aber wahrscheinlich, dass Kleist die Novelle in französischer Kriegsgefangenschaft verfasst hat (Doering 106). Die zeitgenössische Rezeption war überwiegend negativ, an »Die Marquise von O…« wurde vor allem die angebliche Sittenlosigkeit der Handlung kritisiert (Goldammer 649).

Die Novelle handelt von einer Frau – der namensgebenden Marquise von O… –, die ohne eigenes Wissen schwanger geworden ist. Da der Vater zunächst unbekannt ist, ist der Skandal unausweichlich. Aus dem Haus ihres Vaters verstoßen, will sich die Marquise, die Witwe ist und bereits Kinder hat, ganz deren Erziehung widmen. Da aber gibt sich der Vater zu erkennen und schließlich mündet die Novelle in ein ambivalentes Happy-End. Tatsächlich wurde die Marquise vom Vater des Kindes, dem Grafen von F…, während einer Ohnmacht vergewaltigt. Dargestellt wird die Vergewaltigung mit dem berühmtesten Gedankenstrich der deutschsprachigen Literaturgeschichte.

Dass die Vergewaltigung durch ein Interpunktionszeichen dargestellt wird, zeigt gleichzeitig die immense Modernität des Textes an. Kleist hat mit »Die Marquise von O…« einen Text geschrieben, der sich allein auf der Ebene der Sprachlichkeit schon von anderen, klassischen Texten der Prosaliteratur abhebt. Verstöße gegen die Interpunktion dienen dabei der formalen Geschlossenheit des Textes, der sich als engmaschiges Geflecht erweist, in dem die Ereignisse in unerhörter Schlagzahl auf Rezipienten einprasseln.

Vielleicht lässt sich das Unverständnis der Zeitgenossen auch aus dieser formalen Besonderheit erklären. »Die Marquise von O…« wirkt stellenweise wie ein Text von Thomas Bernhard (Knape 6), also wie ein genuin moderner Text, bei dem weniger die Handlung als vielmehr die Sprache selbst ins Zentrum der Gestaltung rückt.

Allerdings wäre es naiv, »Die Marquise von O…« als reines Sprachkunstwerk zu behandeln, schließlich war es vor allem die inhaltliche Ebene, die zeitgenössische Rezipienten an der Novelle abstieß. Auf dieser Ebene wird vor allem das Schicksal einer Frau innerhalb einer patriarchalen Gesellschaft verhandelt. Nicht nur ihre Vergewaltigung zeigt die schwierige Stellung der Frau an. Auch dass die anschließende Verehelichung wenigstens anfangs nur zwischen dem Grafen F… und dem Vater der Marquise, dem Herren von G…, abgemacht wird, deutet auf den disparaten Status der Frau hin.

Emanzipatorisches Potenzial weist die Novelle aber auch auf. Die Marquise verwehrt sich den Anforderungen, die die Männer an sie stellen, und entscheidet sich für ein Leben ohne Mann. Wenngleich sie diesen Entschluss gegen Ende der Novelle aufgibt, weist die Marquise damit doch einen Weg, der zeigt, wie befreites Leben für Frauen aussehen könnte. Fernab patriarchaler Machtworte lebt die Marquise ein selbstbestimmtes Leben.

Kleist hat mit »Die Marquise von O…« eine Novelle geschrieben, die damit noch heute von bestechender Aktualität ist. Das gilt für die Ebene des Inhaltes genauso wie für die sprachliche Ausgestaltung, bei der jedes Satzzeichen an einer spezifischen Stelle steht. »Die Marquise von O…« ist damit eine Novelle von herausragender künstlerischer Bedeutung.

Veröffentlicht am 21. Januar 2013. Zuletzt aktualisiert am 16. Mai 2023.

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