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Die Marquise von O…

Prüfungsfragen

  • Handelt es sich um eine Vergewaltigung der Marquise?

    Im ersten Lesedurchgang scheint zunächst nichts für diese Deutung zu sprechen. Der Graf rettet die Marquise ja sogar vor einer Vergewaltigung durch seine Soldaten. Der berühmte Spiegelstrich aber zeigt die Szene, in der es doch zu einer Vergewaltigung der ohnmächtigen Marquise kommt. Nach heutigem Verständnis handelt es sich also durchaus um eine Vergewaltigung. Dies war nicht immer der Fall. Bis 2016 war der §179 des Strafgesetzbuches noch in Kraft, der eine vergleichbare Handlung lediglich als »Missbrauch einer widerstandsunfähigen Person« bezeichnet hatte (Maierhofer / Athreya 366).

  • Viele Namen in »Die Marquise von O…« sind vom Verfasser unkenntlich gemacht worden. Das betrifft sowohl die Nachnamen der Figuren als auch Ortsnamen wie V… oder M…. Warum hat Kleist dieses Verfahren gewählt?

    Dadurch strebt der Verfasser einen höheren Authentizitätsgrad an. Durch die Zensur kann es erscheinen, als beruhte die Begebenheit auf einer wahren Geschichte. Aus Rücksichten des Persönlichkeitsrechts bzw. des Takts mussten die Namen zensiert werden. Auch durch den erst in der Buchausgabe gestrichenen Zusatz »Nach einer wahren Begebenheit, deren Schauplatz vom Norden nach dem Süden verlegt worden« (Goldammer 649) wird ein solches Ziel verfolgt. Durch die Behauptung, die wahre Begebenheit habe sich nördlich des nördlichen Italiens – wo »Die Marquise von O…« ja spielt – zugetragen, rückt die Handlung sogar noch an das Lesepublikum heran, da nördlich des nördlichen Italiens zunächst deutschsprachige Länder liegen. Für das zeitgenössische Publikum hat sich die wahre Begebenheit hinter »Die Marquise von O…« also gewissermaßen in der Nachbarschaft zugetragen. Der Anspruch Kleists ist es, eine Geschichte zu schreiben, die sich so gerade auch in Deutschland hätte zutragen können.

  • Handelt es sich bei »Die Marquise von O…« um eine klassische Novelle?

    »Die Marquise von O…« kann sicherlich nicht als klassische Novelle bezeichnet werden, wenn man darunter die Novelle der Klassik versteht. »Die Marquise von O…« zeigt keinen im Sinne der literaturgeschichtlichen Epoche »klassischen« Gegenstand. Allerdings finden sich durchaus typische Novellenmerkmale, etwa der sich grob am Drama orientierende Aufbau, der allerdings an entscheidender Stelle Abweichungen aufweist. Zu einer unerhörten Begebenheit kommt es freilich auch und die Handlungsführung ist – von der initialen Asynchronie abgesehen – überwiegend linear.

  • Warum werden nur an drei Stellen Anführungszeichen verwendet?

    An diesen Stellen wird signalisiert, dass es sich um Texte handelt, die sich dem Text der Novelle nicht zur Gänze beugen wollen. Zwei Äußerungen stammen vom Grafen F…, eine vom Vater. Allerdings hat Herr von G… seine Nachricht bloß diktiert, geschrieben hat die Mutter. Daraus ließen sich mehrere Folgerungen ziehen. Zunächst könnte gesagt werden, die Anzahl der Wortmeldungen innerhalb des Textes zeige den Status, die Macht des Schreibers/Sprechers an. Der Graf hat zwei zitierfähige Äußerungen, was als Ausweis seiner Macht gelesen werden kann, schließlich ist er es, für den die Geschichte ein Happy-End aufweist. Der Vater, dessen Interesse der Graf ignoriert, dessen Burg und dessen Tochter er erobert, ist demgegenüber impotent. Daher hat er nur eine zitierfähige Äußerung aufzubieten und die stammt eigentlich sogar von der Mutter. Der Vater ist – psychoanalytisch gesprochen – kastriert.

  • Wie ist das Verhältnis der Marquise zu ihrem Vater?

    Zu Anfang könnte sich der Verdacht einstellen, das Verhältnis zwischen Vater und Tochter sei von einer gewissen Indifferenz geprägt. So verkündet der Vater gleich zu Anfang gegenüber seiner Familie, er würde angesichts der kriegerischen Pflichten so handeln, »als ob sie nicht vorhanden wäre« (114). Der Herr von G… erscheint zunächst als typisches Familienoberhaupt und genauso scheint auch die Beziehung seiner Tochter gestaltet zu sein. Zwischen Vater und Tochter herrscht eine gewisse Distanz, die sich etwa darin äußert, dass bestimmte Themen dezidiert nur mit der Mutter besprochen werden. Die emotionale Bezugsperson der Marquise scheint also die Mutter zu sein.

    Als es jedoch zum Wendepunkt kommt und die Mutter die Marquise des Hauses verweist, zeigt sich erst die Intensität der Beziehung. Der Vater ist der Strenge seines eigenen Urteils nicht gewachsen und flieht vor der eigenen Tochter. Als er sich nicht anders zu helfen weiß, nimmt er eine Pistole von der Wand, wobei sich ein Schuss löst, was als Zeichen der Impotenz des Vaters gedeutet werden kann. Später kommt es zur inzestuösen Szene zwischen Marquise und Vater, bei der sie »wie Brautleute« miteinander umgehen (152). Das Verhältnis ist also durchaus ambivalent. Einerseits ist es extrem innig, andererseits ist es gesellschaftlich geprägt und so bleibt die Beziehung zwischen Vater und Tochter stets von Auflösung bedroht.

  • Der Graf spricht von einem einmaligen Fehltritt, der ihm unterlaufen wäre, und meint damit (wahrscheinlich) die Vergewaltigung der Marquise. Gibt es Anzeichen dafür, dass es sich gar nicht so sehr um einen einmaligen Fehltritt, sondern vielmehr um eine Äußerung seines Charakters gehandelt haben könnte?

    Der Graf selbst verweist auf eine Episode in seiner Kindheit, während welcher er einen Schwan, den er nicht hatte anlocken können, mit Dreck bewarf. Schon das lässt auf eine unempathische Persönlichkeit schließen, die sich eher wenig aus den Interessen ihrer Umwelt macht. Auch sind seine heftigen Reaktion Ausdruck mangelnder Selbstkontrolle. Später gelangt er heimlich in den Garten der Marquise. So wie er zuvor die Festung im Sturm genommen hat, gedenkt er nun auch die Marquise zu erobern. Als sie fliehen will, hält er sie fest und hindert sie zunächst daran. Sicherlich ist der Graf kein gewohnheitsmäßiger Vergewaltiger, die Tat passt aber durchaus zu seinem Charakter. In diesem Sinne könnte die Vergewaltigung durchaus als Ausdruck des Charakters des Grafen gelesen werden.

  • Welche Rolle spielt die Religion in der Novelle?

    Zunächst könnte gesagt werden, die Religion spiele keine maßgebliche Rolle. Kirchliches Personal tritt nicht auf. Selbst in der Verheiratungsszene und bei der Erwähnung der Taufe kommt es nicht zu einer Nennung eines Pastors oder auch nur eines Messdieners. Allerdings ist das Thema der unbefleckten Empfängnis zentral positioniert. Mit dem Vergleich zwischen der Marquise und der Jungfrau Maria wird indes nicht die Marquise in den Rang einer Heiligen erhoben, vielmehr wird der Mythos der unbefleckten Empfängnis, der der Katholischen Kirche ja immerhin als Dogma gilt, dekonstruiert. Die Hebamme sagt, »daß dies, außer der heiligen Jungfrau, noch keinem Weibe auf Erden zugestoßen wäre« (135). Was, wenn es auch dieser nicht passiert ist? Was, wenn der Erlöser also Ergebnis einer Vergewaltigung oder eines Ehebruchs war? Der Protestant Kleist, der ferner mit der Kantischen Vernunftkritik bekannt war, reagierte mit Befremden auf die Praxis des katholischen Gottesdienstes (Hamacher 276). Es mag also durchaus sein, dass die »Die Marquise von O…« auf eine »Subversion religiöser Vorstellungen« abzielt (Schmidt 204).

  • Ist »Die Marquise von O…« die Geschichte einer Emanzipation?

    Dieser Befund trifft einerseits zu, ist andererseits aber mit Einschränkungen zu betrachten. Nachdem die Marquise aus dem väterlichen Haus verbannt wurde, fügt sie sich in ihr Schicksal und entschließt sich, in Zukunft nur für ihre Kinder und deren Ausbildung sorgen zu wollen. Darin äußert sich ein starker Emanzipationsgedanke. Allerdings ist dieser Entschluss nicht von Dauer: Die Marquise kehrt schlussendlich in den Schoß der Familie zurück und tut, was von ihr erwartet wird. Die Emanzipation ist also keine vollständige. Letzten Endes erfüllt sich bloß, was ohnehin vorhergesagt war.

  • Handelt es sich bei »Die Marquise von O…« um eine ironische Geschichte?

    Gerade die Versöhnungsszene zwischen Vater und Tochter kann als Satire gelesen werden. Aber auch die inadäquaten Gefühlsausbrüche des Grafen, die Unfähigkeit des Vaters, sich zu äußern, die doppeldeutige Verwendung des Wortes »Umstände« (Doering 111) – all das deutet auf eine Satire hin. Dabei sollte aber nicht übersehen werden, dass es sich bei »Die Marquise von O…« nicht vollständig um eine komödiantischen Text handelt. Die Novelle hat satirische Elemente, kann aber als ganze nicht darauf reduziert werden. Es ist ein grotesker Humor, der sich hier Bahn bricht. Die Komik Kleists erinnert an die Komik Kafkas: ein hintergründiger Humor, der sich oftmals erst bei einer Relektüre erschließt.

  • Welcher Epoche lässt sich »Die Marquise von O…« zuordnen?

    Wie so viele bedeutende Texte, versperrt sich »Die Marquise von O…« einer einfachen Zuordnung zu einer bestimmten Epoche. Sicher ist, dass Kleist Rousseau gelesen hat und in der Versöhnungsszene einen intertextuellen Hinweis auf Rousseaus Roman »Julie oder die neue Heloise« platziert hat (151). Außerdem hat sich Kleist motivisch beim Familiendrama bedient (Doering 111). Klassisch oder romantisch ist »Die Marquise von O…« nicht. Allenfalls der starke Einsatz von Ironie lässt eine Vergleichbarkeit mit romantischen Texten zu.

Veröffentlicht am 16. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 16. Mai 2023.