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Die Marquise von O…

Abschnitt 4 (140–149)

Zusammenfassung

In der Zwischenzeit ist der Graf von F… aus Neapel zurück und spricht bei der Familie in M… vor, wo er allerdings nur erfährt, dass die Marquise aufgrund des vermeintlichen Fehltritts aus der Familie ausgeschlossen wurde. Ohne weitere Zeit zu verlieren, macht sich der Graf auf nach V…, wo der Landsitz der Marquise steht. Weil er allerdings nicht vorgelassen wird, nimmt er einen Hintereingang und überrascht die Marquise im Garten. Gewohnt heftig bringt er wieder seinen Heiratsantrag vor, doch sie entzieht sich ihm. Dabei scheint sie zu ahnen, dass der Graf etwas mit der Schwangerschaft zu tun hat und flieht in ihre Gemächer (141).

Der Graf reitet zurück nach M… Dort trifft er den Bruder der Marquise bei einer öffentlichen Veranstaltung und erfährt so von der Annonce der Marquise, die ihn aus seiner finsteren Laune befreit (142).

Der Schauplatz wechselt und es werden die Entwicklungen im Hause der Familie des Herren von G… wiedergegeben. Die Mutter der Marquise leidet an schlechtem Gewissen, macht den Vater für die Entfernung ihrer Tochter verantwortlich und ersinnt eine List, wie sie feststellen könnte, ob die Marquise die Wahrheit sagt und tatsächlich nicht weiß, wer der Vater ist. Vorher jedoch liest sie in der Zeitung die Antwort auf die Annonce, in der ein Treffen im Hause von G… vorgeschlagen wird. Der Vater hat den Verdacht, alles sei lediglich eine List der Marquise, um seine Verzeihung zu erlangen – deswegen macht sich die Mutter ihrerseits, ohne das Wissen ihres Mannes, daran, die Wahrheit herauszubekommen (142-145).

Die Mutter wird bei der Marquise vorgelassen und behauptet ihr gegenüber, dass der Vater des Kindes sich angeblich schon bei der Familie gezeigt hätte. Es sei Leopardo, ein angestellter Jäger. An der Reaktion der Marquise erkennt die Mutter, dass diese wirklich nicht weiß, wer der Vater ist. Sie lässt sogar den Gedanken zu, dass sie einmal im Garten eingeschlafen sei und beim Aufwachen Leopardo in der Nähe gesehen habe. Die Mutter ist befriedigt und überredet die Marquise, ins väterliche Haus zurückzukehren (146-149).

Analyse

Immer wieder spielt der Text zwischen Ironie und Ernsthaftigkeit. Heftige Gefühlsausbrüche stehen einem grotesken Humor gegenüber. Als die Marquise den Vater konfrontieren will, flieht er und zieht sich in die Winkel der Zimmer zurück (136). Diese umständlich geschilderte Flucht zeigt deutlich komische Züge.

Auch, dass diese Flucht später gespiegelt wird, wenn der Graf die Marquise verfolgt, ist Ausdruck dieses Humors (141). Dadurch werden aber auch die Machtverhältnisse suspendiert. Ironisch ist auch die Schilderung der Versöhnungsszene.

Die Zärtlichkeiten zwischen Vater und Tochter sind deutlich inzestuös, so sehr, dass man sie als übertrieben ansehen kann. Hinzu kommt, dass es sich dabei um einen intertextuellen Verweis, letzten Endes sogar eine Parodie handelt. Die Mutter späht durch das Schlüsselloch und erblickt die Tochter auf dem Schoß des Vaters. Diese Szene hat Kleist von Rousseau übernommen (Doering 111).

Auch die Männerfiguren sind nicht eindimensional, wenngleich sich auch hier ein klarer Bezug auf vorherrschende Geschlechterrollen zeigt. Mit Ausnahme des Arztes sind alle in der Novelle auftretenden Männer Soldaten oder Jäger. Beide Berufe sind durch den Bezug auf Waffen charakterisiert und daher männlich konnotiert. So können die Bemühungen des Grafen F… auch als Jagd auf die Marquise verstanden werden. Besonders die Szene, in der der Graf sich in den Garten der Marquise schleicht, lässt sich wie eine Pirsch lesen: der Graf jagt die Marquise, die sich ihm zu entziehen trachtet (141).

Interessant ist, dass die Marquise ausgerechnet eine Annonce schaltet, um den Vater des Kindes zu ermitteln. Es sei daran erinnert, dass es ja erst die Gesellschaft und ihre Werte sind, die die Problematik der Marquise darstellen. Um der Öffentlichkeit zu entkommen, wählt die Marquise also den Weg maximaler Öffentlichkeit.

Überhaupt spielt der Nachrichtenverkehr eine große Rolle in der Novelle. Der Marquise wird über einen Brief mitgeteilt, dass ihr Vater sie aus dem Haus weist. Durch den Fakt, dass der Vater diesen Brief diktiert, wird auch dieser zu einem Stück Öffentlichkeit. So wird die Spannung zwischen familiärer und öffentlicher Sphäre auch auf der medialen Ebene dargestellt.

Veröffentlicht am 16. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 16. Mai 2023.