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Die Marquise von O…

Sprache und Stil

»Die Marquise von O…« ist ein typischer Kleist: Die Sätze sind lang und parataktisch par excellence. Gleichzeitig wird ein eminent moderner Stil erreicht, der an Thomas Bernhard erinnert. Die Novelle erscheint sprachlich sehr dicht, weil die meisten Sätze sich aufeinander beziehen, also in einem engen textuellen Geflecht miteinander verwoben sind. Das macht den Text einerseits anspruchsvoll und zunächst eher schwer zugänglich, auf der anderen Seite aber lässt er sich, wenn Leser:innen sich einmal auf ihn eingestellt haben, außerordentlich zügig und konzentriert lesen. Die stilistische Geschlossenheit des Textes macht ihn zu einem ungemein wichtigen literarischen Kunstwerk. Kleists Prosa ist eminent modern. Genau deswegen war sie aber auch seinerzeit so erfolglos. Kleist war vor allem als Theaterdichter geschätzt.

Schon zu Beginn ist auffällig, dass die Zeitungsannonce paraphrasiert und nicht zur Gänze zitiert wird. Der Text »Die Marquise von O…« verleibt sich andere Texte ein, so den Zeitungsartikel, aber auch sämtliche Figurenrede, die nicht als Zitat gekennzeichnet, also letzten Endes Paraphrase ist. Man könnte den erzählerischen Text, der sich alles andere assimiliert, einen wuchernden Text nennen: ein ungeheuer dynamisches Gewebe, das sich zwar trennen lässt, aus dem es andererseits aber auch kein Entrinnen gibt. Hat die fluide Sprache Kleists die Rezipienten erst einmal gefangen, erweist sich der Text eben auch als poetische Sprache an sich. Man könnte diese Novelle durchaus eine poetische Novelle nennen, da die Sprache so hochgradig artifiziell ist, wie es sonst in Prosa eher unüblich ist. Bei Gedichten hingegen ist die rhetorische Durchformtheit der Sprache Grundbedingung; in dieser Hinsicht handelt es sich bei »Die Marquise von O…« durchaus um ein Prosagedicht. Das erklärt allerdings auch die rezeptionsästhetisch auszumachenden Hürden. Die Novelle ist aufgrund ihres hohen künstlerischen Sprachniveaus ein schwieriger Text. Sie verlangt Aufmerksamkeit, vielleicht sogar lautes Lesen. So ließe sich die spezifische Musikalität des Textes hören.

Bezeichnenderweise wird die Kleistsche Zurückhaltung gegenüber Anführungszeichen an entscheidenden Stellen aufgegeben: Der Brief des Vaters (136) wird als Zitat gegeben, der Ausruf des Grafen: »Julietta!« (118) und schließlich dessen Antwort auf die Annonce (144). Im Gegensatz zur Annonce der Marquise, die nur paraphrasiert wird, sind der Brief des Vaters und die Nachricht des Grafen schriftliche Äußerungen von Männern. Dass sie zitiert werden, verweist einerseits auf ihre Wichtigkeit, denn in patriarchalen Gefügen ist nur das von Relevanz, was Männer geschrieben haben. Das zeigt sich auch dort, wo der Graf versucht, seine Liebe auszusprechen, was nicht erwidert wird: »Er fühlte daß der Versuch, sich an ihrem Busen zu erklären, für immer fehlgeschlagen sei, und ritt schrittweis, indem er einen Brief überlegte, den er jetzt zu schreiben verdammt war, nach M…« (141). Die schriftliche Form ist der gesprochenen überlegen.

Andererseits wird durch das Zitieren verdeutlicht, dass es sich um fremde Eingriffe in den eigentlichen Diskurs handelt, nämlich in den von der Erzählinstanz geschriebenen Text. Gendertheoretisch könnte interpretiert werden, die Aussagen der Männer seien steril, nicht fruchtbar, nicht weiblich und könnten deswegen nicht dem Text, der jenseits seines grammatischen Genus kein Geschlecht hat, einverleibt werden. Gleichzeitig signalisiert der Kleistsche Text so, dass er nicht nur intratextuell hochgradig verflochten ist, sondern auch mitten im Spiel der Intertextualität steht. Er verweist auf andere Texte, auf parallele, fiktive, aber auch auf Prätexte. Schließlich heißt es im Untertitel, die Handlung sei »vom Norden nach dem Süden verlegt worden« (Goldammer 649). Dieses Authentizitäts-Signal funktioniert genauso wie die Phrase »basierend auf einer wahren Begebenheit« im modernen Kinofilm. Authentizität wird ferner dadurch hergestellt, dass die Namen der beteiligten Personen nicht genannt werden. So werden Rücksichten auf echte Personen simuliert, die den Text glaubwürdiger machen sollen.

Veröffentlicht am 16. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 16. Mai 2023.